Birgit Loos

Die Hinterhofmusikanten


Mirna sah seufzend aus dem Fenster. Der Blick war der Gleiche, wie gestern, vergangene Woche, vergangenes Jahr. Der gleiche düstere, graue Hinterhof, der sie seit Jahren erwartete, wenn sie auf ihren briefmarkengroßen Balkon trat. Heute ging ihr dieser Blick gewaltig auf die Nerven. Alles ging ihr auf die Nerven seit einigen Tagen. Sie vermisste das Zusammensein mit ihren Freunden. Den täglichen Einkauf. Den gemeinsamen Kaffeeklatsch in der Konditorei. Sie war alt. Viele Freunde waren längst auf die große Reise gegangen. Die wenigen, die ihr geblieben waren, hielten sie lebendig. Wie war es nur dahin gekommen, dass man ihr seit Wochen den Ausgang verwehrte? Wegen eines Virus? Mirna schnaubte wütend. Die Kontaktsperre sollte verhindern, dass Menschen in Mirnas Alter sich nicht ansteckten und starben. Mirna plusterte sich entrüstet auf. Der Virus, der sie umbrachte, musste erst erfunden werden. Himmel und Hölle. Sie war sechsundachtzig. Sie hatte den Krieg überlebt. Die Flucht aus Ostpreußen. Den Hunger. Die Kälte. Ein Virus, das man nicht einmal sah, machte ihre keine Angst. Leider hatten ihre Freunde eine völlig gegensätzliche Meinung dazu. Sie trauten sich nicht mehr aus dem Haus. Selbst deren Kinder und Enkel kamen nicht mehr zu Besuch, aus Sorge vor Ansteckung. Mirna hatte dafür kein Verständnis. Ihre Freunde verkrochen sich einsam und allein in ihren Wohnungen, ihren Altenheimen und warteten. Worauf? Auf den Tod? Der ließ auf sich warten. Letztendlich bestand der Sinn der Kontaktsperre ja genau darin, den Tod fernzuhalten. Aber mit der Einsamkeit konnten sie alle nicht umgehen.
Mirna stellte die Kaffeemaschine an. Eine Minute später machte sie sie wieder aus, Wozu Kaffeekochen? Für wen? Es kam niemand. Kuchen hatte sie keinen. Da müsste sie erst einkaufen. Aber allein in die Konditorei gehen, ohne Gesellschaft ihr Kaffeestückchen essen. Das machte ihre keine Freude. Sie ging zurück in ihr Wohnzimmer. Sollte sie den Fernseher anmachen? Wozu? Um diese Uhrzeit gab es nichts, das sie reizte. In die Buchhandlung konnte sie ebenfalls nicht, die hatte geschlossen wegen des Virus. Einen Computer besaß sie nicht. Ihr Blick fiel auf ihr Klavier, Sie setzte sich davor, spreizte die steifen Finger, begann langsam eine Melodie zu spielen. Mendelsohn. Es fiel ihr jedes Jahr schwerer. Sie seufzte. Dabei war sie Klavierlehrerin gewesen. Aber in ihrem Alter waren die Finger nicht mehr so geschmeidig, wie sie sein sollten. Frustriert hörte sie auf. Stattdessen tigerte sie erneut durch ihre Wohnung.

Es klingelte an der Tür. Vorsichtig sah Mirna durch den Spion. Ein junges Mädchen stand davor. Höchstens zwanzig. Schmuck sah sie aus. Adrett. Zumindest was ihre Kleidung betraf. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen. Ihre unerwartete Besucherin trug eine Maske. Was die von ihr wollte? Mirna schüttelte den Kopf. Sie würde es nie erfahren, wenn sie nicht öffnete.
„Ja, bitte?“ Mirna riss die Tür auf. Das Mädchen trat erschrocken einen gewaltigen Schritt nach hinten.
„Entschuldigen Sie bitte, ich komme von der Einkaufshilfe. Vielleicht wissen Sie es noch nicht. Wir haben uns zusammengetan, weil wir unsere älteren Mitbürger in diesen Zeiten nicht allein lassen wollen. Wir bieten Ihnen an, das Einkaufen ab sofort für Sie zu übernehmen.“
Mirna nickte auffordernd. Das Mädchen räusperte sich verlegen. „‚Äh, ja – also. Mein Name ist übrigens Katja. Ich würde für sie einkaufen gehen, wenn sie das möchten. Sie machen mir eine Liste, was sie brauchen und ...“
Katja unterbrach sich, weil Mirna einen großen Schritt auf sie zumachte. Beklommen sah sie sich um. Weiter zurück, um den Mindestabstand einzuhalten, konnte sie nicht. Mirna war sich dessen bewusst. Aber wenn dieses Mädchen für sie einkaufen wollte, sie ihm ihre schwer verdiente Rente anvertrauen sollte, dann musste sie sich diese selbstlose Helferin genauer ansehen.
„Ja... äh. Frau äh..“
„Mirna,“ unterbrach sie Mirna. „Ich bin Mirna.
Eine tiefe Röte überzog das Gesicht der jungen Frau. „Ja – also Frau Mirna, möchten Sie sich uns anschließen? Ich käme dann morgen wieder. Sie schieben mir ihre Liste durch die Tür hindurch. Ich kaufe Ihnen ein, stelle ihre Einkäufe vor ihrer Tür ab.“ Mirna beobachtete das Mädchen, das nervös von einem Fuß auf den anderen trat. „Also, wenn Sie das möchten,“ schloss es verlegen.
„Nein, ich möchte das nicht,“ ließ Mirna sie wissen. Bevor Katja antworten konnte, fuhr sie fort; „Aber danach fragt ja keiner. Ich muss machen, wie die da oben das wollen. Klein Mirna muss in Haus bleiben, weil sie sonst ein böses Aua bekommen kann. Sie darf nicht mehr mit den anderen Kindern spielen, weil da so ein böses Virus unterwegs ist, dass alle töten kann. Nein, Mirna hat Hausarrest. Deshalb mein liebes Kind, dürfen Sie gerne meine Einkäufe erledigen. Und wenn Sie keine Angst vorm Virus haben, dürfen Sie mir die Einkäufe auch persönlich aushändigen.“
Katja atmete erleichtert auf. Mirna war klar, die Kleine schätzte, sie als völlig bekloppt ein. Aber es war ihr egal. Zu guter Letzt war es eine Abwechslung. Endlich konnte sie wieder mit einem anderen Menschen sprechen, statt stundenlange Selbstgespräche zu führen.
„Dann also bis morgen. Ich komme so gegen zwei Uhr vorbei und hole mir Ihre Einkaufsliste ab, Frau Mirna. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen, Katja. Ach noch etwas.“
Das Mädchen blieb auf der Treppe stehen und sah Mirna verschreckt an. „Mein Name ist Mirna. Das „Frau“ kannst du weglassen. Das macht mich so alt.“
Sie kicherte, als Katja sich wortlos abwandte und die Stufen herunterlief.

Am nächsten Tag lauerte Mirna regelrecht auf das Mädchen. Sie übergab ihr ihre Einkaufsliste, drückte ihr einen 50-Euro-Schein in die Hand, dann wartete sie auf Katjas Rückkehr. In dem Moment wo diese den Korb vor ihrer Tür abstellte, riss Mirna die Tür auf. Katja fuhr erschreckt zurück. Fast wäre sie die Treppe heruntergefallen. Mirna griff im letzten Augenblick zu und hielt sie fest.
„Warum bist du denn so schreckhaft, Mädchen?“, fragte sie kopfschüttelnd. „Bist du immer so?“
Katja verneinte. Sie erklärte Mirna, sie müsse den Mindestabstand einhalten, um sie nicht zu gefährden.
„Papperlapapp! Mindestabstand. Gefährdung! Ich bin fit wie ein Turnschuh. Ich hatte seit zwanzig Jahren keine Grippe. Weil ich gesund lebe. Jawohl. Mich macht das Eingesperrtsein krank. Die Einsamkeit. Ich streite mich schon mit mir selbst, weil ich meine Freundinnen nicht mehr zu sehen bekomme. Mit denen konnte man sich herrlich streiten. Jetzt stell dich nicht so an. Komm rein. Ich will dich kennenlernen. Man muss doch wissen, wem man sein Geld anvertraut. Außerdem hast du ja deinen Mundschutz um. Ich steck dich schon nicht an!“
Seufzend trat das Mädchen über die Schwelle. In Mirnas Wohnzimmer blieb sie entzückt stehen, als sie das Klavier sah.
„Sie spielen Klavier?“, fragte sie mit Ehrfurcht in der Stimme. Mirna nickte: „Ich bin Klavierlehrerin seit 1955. Wollte nie etwas anderes sein. Kinder in der Musik unterrichten. Etwas schöneres gab es für mich nicht. Musik und Kinder.“
Katja nickte begeistert. „Das verstehe ich. Ich studiere Musik. Aber jetzt, ist alles dicht. Ich meine die Uni, die Schulen. Ein Klavier kann ich mir nicht leisten. Deshalb muss ich auf andere Instrumente zurückgreifen. Aber mir fehlen die Stunden, die ich in der Uni mit dem Klavier verbracht habe.Das ist echt Scheiße.“ Sie wurde knallrot, entschuldigte sie sich mehrmals für ihre Wortwahl.
Mirna grinste: „Was wahr ist, kann man auch sagen. Das ist mein Lebensmotto. Wenn du willst kannst du hier spielen. Ich übe mit dir. Tut mir auch gut. Kommen meine Gehirnsynapsen wieder auf Tour. Wer rastet, der rostet.“ Katjas Hinweis auf die Ansteckungsgefahr wiegelte sie ab.

Am nächsten Mittag hörte Mirna, wie jemand ihren Namen rief. Draußen auf dem Hinterhof. Sie ging hinaus auf den Balkon. Katja winkte ihr von der gegenüberliegenden Seite des Hofes zu.
„Hallo Mirna,“ schrie sie, Mirna fragte sich, ob das Mädchen sie für schwerhörig hielt. Oder warum blökte sie derart laut? Durch die Bebauung war ein fast runder Hof entstanden, dessen Akustik nichts zu wünschen übrig ließ. Man konnte jederzeit alles hören. Egal, wo man war. Gleichgültig, wie leise man glaubte zu sein.
„Mirna! Hören Sie mich?“, schrie Katja erneut.
„Kindchen, ein soeben ist ein Eisbär in der Arktis vor Schrecken von seiner Scholle gerutscht, so laut haben Sie geschrien. Keine Sorge, ich höre Sie und mit mir jeder einzelne Einwohner dieser Millionenstadt.“
„Oh!“, verlegen hielt Katja die Luft an. Vermutlich wechselte ihre Gesichtsfarbe wieder in dieses tiefe erdbeerrot, so wie gestern. Von ihrem Standpunkt aus konnte das Mirna allerdings nur mutmaßen.
„Ich meine ja nur...Ich wollte sie fragen...Sie haben mir gesagt, sie wären einsam, weil sie Ihre Freundinnen nicht treffen könnten. Deshalb habe ich mir gedacht, ob Sie eventuell Lust hätten, mit mir zu musizieren? Ich hole meine Geige und sie könnten mich auf dem Klavier begleiten. Natürlich nur, wenn Sie das auch wollen.“
Mirna überlegte nur einen kurzen Moment. In ihrer Kindheit war sie stets dafür gerügt worden, zu spontan zu reagieren. Ihre Freundinnen hatten ihr dies öfter zum Vorwurf gemacht. „Denk erst nach,“ war ihr Standardspruch, wenn Mirna unbedenklich sich in neue Abenteuer stürzen wollte, die keineswegs ihrem Alter entsprachen oder sich um Kopf und Kragen redete.
„Bin gleich wieder da,“ schrie sie es ebenfalls über den Hof.
Bald darauf stand sie keuchend auf dem Balkon. Aufgrund der Anstrengung benötigte sie einen Moment, bis sie Luft bekam, um mit Katja Kontakt aufnehmen zu können. Es war lange her, dass sie ihr Klavier innerhalb der Wohnung verschoben hatte. Mirna gestand sich seufzend ein, trotz der Rollen, war dies keine Option mehr für sie. Ächzend rieb sie sich den unteren Rücken. Aber jetzt stand das Schmuckstück da, wo sie es haben wollte. Vor der Balkontür. Mitten im Weg.
„Was wollen wir spielen?“, rief sie Katja zu.
Die zuckte mit den Schultern. „Sagen Sie es mir. Was Klassisches, oder Schlager. Ich kann auch ein paar schöne Volkslieder,“
Mirna überlegte. Was Klassisches wäre das Beste für den Anfang. Sie schlug deshalb Mozarts „Kleine Nachtmusik“ vor. Katja nickte. Dann legten Sie los,
Das nächste Lied war ein Stück aus Schwanensee.
Mirna war in ihrem Element. „Kennen Sie das?“, rief sie Katja über den Hof zu. Sie begann die ersten Takte von „Ballade pour Adeline“ zu spielen. Katja wartete auf einen passenden Einstieg, bevor sie Mirna mit der Geige begleitete.

„Jetzt bin dran,“ rief Katja, sobald sie das Stück beendet hatten. Mit weit ausholender Gestik stimmte sie Udo Jürgens Lied „Griechischer Wein“ an. Mirna grinste, wenn das kleine Fräulein glaubte, sie könne nur Klassik spielen, dann hatte sie sich getäuscht. Sie kannte die Noten auswendig. Udo Jürgens war einer ihrer Lieblingssänger gewesen. Sie konnte alle seine Lieder aus dem Gedächtnis nachspielen. Die beiden vertieften sich in ein Potpourri von Schlagerliedern aus den vergangenen dreißig Jahren. Sie bekamen nicht einmal mit, dass die Nachbarn auf den Balkonen rundherum herauskamen, ihnen zuhörten. Vereinzelt sangen diese sogar die Texte mit.
Nach einer Stunde war Mirna fertig. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie klappte den Klavierdeckel zu und sagte laut und vernehmbar „Schluss für heute.“ „Zugabe! Zugabe! Zugabe!“ Rufe ertönten von überall her. Erst da wurde sie sich ihrer Zuhörerschaft bewusst. Gänsehaut lief ihr über den Rücken, als Applaus aufbrandete. Katja verneigte sich elegant vor ihrem Publikum. Mirna sah sich staunend um. Seit Jahrzehnten wohnte sie hier, spielte Klavier. Mal allein, mal vor ihren Freundinnen. Aber so etwas hatte sie bisher nicht erlebt.
„Hört mal Leute,“ Katja schrie erneut. „Mirna braucht eine Pause. Aber morgen Abend spielen wir wieder für Euch. Wir freuen uns so sehr, wenn unser kleines Ständchen Euch gefallen hat und wünschen Euch eine gute Nacht.“

Am nächsten Tag brachte Katja außer den Einkäufen, die sie für Mirna getätigt hatte, Noten mit. „Hier schauen Sie sich die mal an. Ich habe gestern Abend etliche junge Leute auf den Balkonen gesehen. Deshalb habe ich mir gedacht, wenn wir auch etwa modernere Musik spielen könnten. Dann hat jeder etwas von unserem Konzert. Klassik, Schlager, Rockmusik. Das wird so toll.“
Mirna war im ersten Moment völlig überfordert mit Katjas Ansinnen. Andererseits die gestrige Aufführung hatte ihr gefallen. Sie hatte etwas zu tun gehabt. Wen kümmerte es, wenn ihre Finger steif waren, sie die Noten nicht immer getroffen hatten. Niemand war es aufgefallen. Nur ihr. Aber sie würde den Teufel tun, das jemanden zu verraten. Was schadete es, wenn sie sich Katjas Notenblätter ansah?

Am Abend zwängte Mirna sich an ihrem Klavier vorbei auf den Balkon.
„Guten Abend,“ grüßte sie der junge Mann, der neben ihr wohnte. Sie sah ihn so gut wie nie. Er ging morgens früh aus dem Haus, kam am Nachmittag zurück und verschwand erneut bis lange nach Mitternacht. Obwohl sie schon ewig nebeneinander wohnten, waren dies die ersten Worte, die sie miteinander sprachen.
„Guten Abend,“ antwortete Mirna. Erstaunt sah sie auf die Gitarre, die der Mann in den Armen hielt.
„Ich bin Alexej,“ stellte er sich vor. Mirna besah sich ihren Nachbarn genauer. So jung war er gar nicht. Nein, er war eindeutig schon Mitte vierzig.
„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich Ihnen und der jungen Dame von gegenüber bei Ihrem Konzert heute anschließen würde. Es hat mir so viel Freude gemacht, ihrer Musik zuzuhören. Wenn man zusammen musiziert ist das Leben nicht ganz so trostlos. Man vergisst die Angst und die Sorgen.“
Mirna lächelte verständnisvoll. Sie sah keinen Grund, warum er nicht mitspielen durfte. Hilfsbereit reichte sie ihm die Notenblätter, die Katja ihr heute Mittag gebracht hatte, über den Balkon. Bei den modernen Liedern war er mit seiner Gitarre mit Sicherheit eine große Hilfe, fand sie. Alexej bedankte sich und sah sich die Noten aufmerksam an. In diesem Moment trat Katja auf den Balkon. Sie winkte Mirna strahlend zu: „Sind Sie bereit?“ ,schrie sie.
„Kindchen, seien etwas leiser. Ich bin nicht schwerhörig. Und was noch wichtiger ist, der Großteil der Menschen hier im Hinterhof ist es auch nicht.“
„Entschuldigung, ich denke nur....Ich bin so weit entfernt von ihrem Balkon...“
„Schätzchen, man kann über diesen Hinterhof sagen, was man will. Er ist hässlich. Er ist grau. Er ist eng. Aber er hat eine Akustik, da versteht man jedes Wort, das auf den Balkonen gesprochen wird. Schlimmer noch, bei Ostwind bekommt man jeden Beischlaf mit.“
Völlig perplex sah Katja die alte Dame an. Alexej hingegen versuchte, vergeblich sein Lachen zu unterdrücken.
„Was ist mit euch jungen Leuten los?“, verdutzt sah Mirna sich um. „Ihr glaubt wohl, weil ich alt, wie Methusalem bin, würde ich das nicht mehr mitbekommen? Ich war auch mal jung. Und jetzt lasst uns anfangen, bevor ich mir die Radieschen von unten betrachten muss, weil ich vor Langeweile gestorben bin.“

Alexej gab ihr einen Daumen nach oben. Dabei grinste er wie ein Honigkuchenpferd. Katja hatte erneut diesen erfrischenden erdbeerfarbenen Hautton. Sie nahm die Geige und legte sie sich unter das Kinn. So begann ihr Konzert.
Zuerst wieder mit klassischer Musik, dann die Schlager, bei denen alle mitsingen konnten. Anschließend wechselte Katja zu Rock und Pop über. Let it be von den Beatles. Piano man von Billy Joel.
Mittendrin wurde ihr Spiel durch lautes Trommeln unterbrochen. Ein Mann mit einer Hautfarbe wie dunkle Schokolade und Rastafarilocken war der Übeltäter. Er winkte zu Mirna und Alexej hinüber.„He, Leute! Ich bin Tom! Darf ich mitspielen? Ich habe das Gefühl, Euch fehlt ein Schlagzeuger.“
Alexej hob die Hände, klatschte enthusiastisch Beifall. „Klar, doch. Spitze. Auf dich haben wir gewartet.“
An diesem Abend spielten sie sich zu viert durch die Welt der Musik. Den Menschen, die in ihren Wohnungen eingesperrt waren, waren sie eine willkommene Abwechslung. Sie riefen den Musikern Titel zu, die diese spielen sollten. Leider konnten Mirna und ihre Mitspieler nicht alle Wünsche erfüllen. Ihnen fehlten dazu schlicht die Noten. Mirna musste gestehen, dass sie die Lieder der heutigen Jugend nicht mehr kannte. Was wusste sie schon, wer Rihanna war. John Lennon, Stevie Wonder, genau wie Rod Stewart waren ihr ein Begriff. Deren Lieder kannte sie. Aber Green Day, Linkin Park sagten ihr nichts. Diese Lieder ließ sie die jungen Leute allein spielen.

Womit sie nicht gerechnet hatte, war, die jungen Leute bestanden darauf, Mirna bei den modernen Liedern mit einzubeziehen. Am nächsten Tag brachte ihr sowohl Katja als auch Alexej und Tom Notenblätter vorbei. „Wir sind ein Team, eine Band. Alle zusammen oder keiner,“ erklärte Alexej. Katja berichtete von einer Idee, die ihr in den Sinn gekommen war: „Ich habe mir überlegt, die Leute rufen uns die Lieder zu, die sie hören möchten. Wir spielen die Melodien, die wir kennen. Am nächsten Tag haben wir Zeit genug, uns die Noten der anderen Lieder zu besorgen. Wenn es länger dauert, ist das auch egal. Irgendwann spielen wir das gewünschte Lied.“
Mirna sah die Drei entsetzt an, die den geforderten Mindestabstand einhielten und auf ihre Antwort warteten: „Dann müssen wir jeden Tag wie die Verrückten üben, damit das klappt.“
Alexej lachte: „Na und! Ich habe Kurzarbeit. Meine Arbeit in der Bar ist ganz weggefallen. Mir ist ohnehin langweilig. Du bist allein, Mirna. Katja hat keine Uni und ich weiß nicht, wie es Tom geht...“
Tom winkte lässig ab: „Macht Euch mal um mich keine Gedanken. Mein Job ruht zur Zeit ebenfalls. Ich bin froh, dass meine Freundin arbeiten gehen kann. Also ich bin dabei.“
Mirna dachte kurz nach. Wenn ihre drei Mitspieler sich so darauf freuten, jeden Abend im Hinterhof ein Konzert zu geben, dann würde sie sich nicht dagegen sträuben, selbst wenn ihre Finger schmerzten. Im Gegenteil. Sie streckte ihre Hände ihren Nachbarn entgegen und rief begeistert: „Also gut. Wir machen das. Ab sofort sind wir die Hinterhofmusikanten.“
Die jungen Leute freuten sich über Mirnas Enthusiasmus. „Schön, dass du dabei bist.“ Katja hielt sich im letzten Moment davon ab, Mirna zu umarmen.

„Ph,“ machte Mirna verächtlich. „Natürlich bin ich dabei. Etwas Besseres als Tod und Einsamkeit finden wir überall.“

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