Birgit Loos

Wir sind alle Kaiser

Michelle betrat ihr kleines Start-up-Unternehmen, das sie gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen Lilli und Antonia gegründet hatte. Vor einem Jahr hatte ein spontaner Einfall zur Gründung ihres eigenen Geschäftes geführt. Jede von ihnen brachte eine besondere Eigenschaft mit, die sie der Firma zur Verfügung stellten. Michelle war diejenige, mit der Kreativität. Von ihr stammten die Anregungen, was die Stoffe, die Kreationen der Kleider und Accessoires betraf. Lilli war die mit dem handwerklichen Können, die all das was Michelle in ihrem Kopf hatte, umsetzte. Antonia war das Organisationstalent der drei. Sie besorgte die Stoffe, die Garne, die Näherinnen und was sonst nötig war, um Michelles Ideen durch Lilli in Mode umzuwandeln.

Als sie sich jetzt umblickte, war niemand zu sehen. Aber aus Antonias Büro war lautes Reden zu hören. Mit großen Schritten lief sie in Richtung des Radaus.
Paul war da. Er war einer der zahlreichen Berater, die sie seit Beginn ihres Unternehmens in Anspruch genommen hatte.
„Wieder einer mehr,“ dachte sich Michelle. Mit gerunzelter Stirn ging sie auf ihre Freundinnen zu.
„Was gibt es? Kann ich helfen?“, fragte sie unterkühlt.
„Ach, Paul findet deine Idee, für die neue Wintersaison sei nicht kundenansprechend. Er meint, du solltest dich mehr an das Knowhow der großen Modeateliers halten. Als Start-up sei es ohnehin schwer, in diesem Bereich Fuß zu fassen, wenn man dann vom Mainstream abweiche, hätte man kaum Chancen.“
Michelle schnappte nach Luft, als Antonia ihr den Standpunkt von Paul darlegte. Was ging es diesen Lackaffen, der niemals einen kreativen Strich auf ein Stück Papier gebracht hatte, an, wie ihre Winterkreation auszusehen habe. Wütend funkelte sie Paul an.
„Aha! Und wie ist das mit dem Absetzen der Masse? Ich habe mal gelernt, man solle Einzigartiges bieten, etwas völlig anderes, damit man Erfolg habe,“ funkelte sie ihn an.
Paul ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen.
„Im Prinzip hast du recht damit, Michelle. Leider ist der Erfolg an gewissen Regelmäßigkeiten gebunden. Wenn du aus der Reihe tanzt, dann kann der Schuss nach hinten losgehen. Ihr seid völlig neu im Geschäft und wollt euch einen guten Namen machen. Wenn du auf mich hörst, nimmst du einen Mittelweg. Sei kreativ, sei anders. Aber weiche nicht allzu weit vom Mainstream ab. Halte dich an das, was die Massen mögen.“
Michelle schnaubte. Sie öffnete den Mund, um Paul zu widerlegen, doch der war in seinem Element. Er redete weiter, ohne sie zu beachten.
„Stell dir mal vor, du wärest Autorin. Du weißt, zurzeit sind Krimis und Fantasy gefragt. Du kannst aber beide Genres nichts abgewinnen. Du schreibst, sagen wir mal, Liebesromane. Diese sind allerdings nicht up to date. Du verstehst?“
Wieder wollte Michelle etwas einwenden, doch Pauls Frage war rhetorisch gemeint. Er fuhr fort.
„Deshalb musst du Kompromisse eingehen. Du überlegst dir, einen Fantasy-Krimi zu schreiben. Als Highlight fügst du eine melodramatische Lovestory hinzu. Später Machst du daraus ein Serial, das über mehrere Bände geht. Das gleiche Prinzip wendest du für deine Entwürfe an.“
Hmmm. Michelle dachte einen Moment nach.
„Und was mach ich, wenn ich keinen Draht habe zu Krimis und Fantasy? Dann wird das ganze Buch miserabel, weil ich keinen Zugang zu den Personen finde. So ist es mit meinen Kreationen. Ich will niemanden kopieren. Ich will keine Karohosen designern, weil ich Karostoffe entsetzlich öde finde. Ich liebe Blumen, helle Farben, Schmetterlinge, was weiß ich. Versuch, das mal mit einem Karodesign in Verbindung zu bringen. Das geht nicht.“
Paul seufzte theatralisch. „Schau, Michelle. Geht nicht, gibt es nicht. Du bist eine Künstlerin. Du bist kreativ, talentiert. Setz dich an deinen Tisch und lege los. Denk nicht darüber nach. Tu es.“
Dieser Typ hatte nicht mehr alle Latten am Zaun. Was fiel dem denn ein? Ihr sagen zu wollen, wie sie zu arbeiten hatte.
„Michelle, hör auf dich zu sträuben. Wozu haben wir einen Berater wie Paul angestellt, wenn wir dann doch nicht auf ihn hören. Komm schon. Es hängt nicht nur dein Geld in diesem Unternehmen, sondern ebenso das von Lilli und mir.“
Damit nahm ihr Antonia den Wind aus den Segeln. Wortlos drehte sie sich um und ging hinaus. Freilich konnte sie es sich nicht verkneifen, die Tür hinter sich zuzuschmettern.

An diesem Tag verließ sie spät ihren Arbeitsplatz. Nichts hatte funktioniert. Ihr fehlte die Inspiration. Sie fühlte sich wie ein Adler, den man in einen engen Käfig sperrte. Sie konnte ihre Flügel nicht ausbreiten. Ruhelos drehte sie sich von einer Seite auf die andere. Ihr Firmenkonzept kam ihr mit einem Male falsch vor. Von Anfang an hatten sich Berater die Türklinke in die Hand gedrückt. Sie hatten einen Berater gehabt, der ihnen beim Start-up geholfen hatten. Sie hatten einen Berater, der ihnen erklärte, wie die Organisation einer Firma zu laufen hatte. Ein anderer Berater erzählte Lilli wie sie kostengünstig und effizient ihre Kleider zu nähen, die Arbeiterinnen anzuleiten hatte. Der nächste Berater sollte sie über Steuern und Anlagemöglichkeiten informieren. Diesen zahlten sie weiterhin, weil keiner von ihnen, sich mit trockenen Zahlen auseinandersetzen wollte. Jetzt war Paul da. Er hatte die Aufgabe Michelle zu beraten. Welche Trends gefragt waren, wie sie ihre Kreativität einzusetzen hatte. Leider fühlte sie sich mit jedem Tag eingeengter. Seine Anforderungen untergruben ihren Erfindergeist. Ludger, der Finanzberater, hingegen mischte sich nicht in ihre inneren Angelegenheiten ein. Er kam nur hin und wieder vorbei, legte ein paar Papiere vor, die entweder Antonia, Lilli oder sie unterschrieben, und verschwand wieder.

Michelle setzte sich auf. Wann hatte sie Ludger das letzte Mal gesehen? War das letzte Woche oder waren schon zwei Wochen vergangen. Wann hatte sie das letzte Mal eine Überweisung getätigt. Ludger hatte keinen Zugriff auf die Konten ihres Unternehmens. Schweiß brach ihr aus. Seit Wochen hatte sie dieses flaue Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Aber statt diesem nachzugehen, hatte sie sich auf einen Kleinkrieg mit Paul eingelassen. Mit einem Ruck warf sie die Bettdecke von sich. Sie würde sofort in die Firma fahren und nach dem Rechten sehen. Dieses Kribbeln in ihren Knochen, sagte ihr, es wurde höchste Zeit. Irgendetwas lief gewaltig schief.

Lilli und Antonia fanden ihre Freundin am nächsten Morgen im Büro vor dem Computer sitzend. Ihr Gesicht war leichenblass.
„Was ist denn mit dir los?“, wunderten sich die Freundinnen.
„Wir sind pleite,“ flüsterte Michelle geschockt, von den Nachforschungen der letzten Nacht.
„Was?“ Antonias schrille Stimme riss Michelle aus ihrer Lethargie.
„Ja, pleite. Seht her.“ Sie öffnete den Computer und zeigte ihren Freundinnen, was sie entdeckt hatte.
„Seit drei Monaten ist keine einzige Forderung mehr gezahlt worden. Das Finanzamt hat uns angemahnt. Ebenso die Telefongesellschaft und die Stromfirma. Die einzige Rechnung, die Lutger überwiesen hat, war seine Eigene. Da schaut.“
Sie deutete auf eine Überweisung der Bank.
„Wer zum Teufel hat das gegengezeichnet? Das ist um ein Vielfaches höher, als wir ausgemacht haben?“, schimpfte Antonia.
Lilli lief rot an. „Ich glaube, das war ich. Lutger kam zu mir und sagte, er bräuchte dringend eine Unterschrift, um eine Rechnung für den Stofflieferanten zu zahlen. Da habe ich unterschrieben, ohne groß hinzusehen, was es war. Später habe ich mich über den seltsamen glatten Betrag gewundert. Aber dann hatten wir Probleme mit der Nähmaschine und ich habe es wieder vergessen. Na ja, ich dachte, es wird schon stimmen.“
Geschockt sahen sich die drei an. Keiner kam auf die Idee, dem anderen Vorwürfe zu machen. Jetzt mussten sie retten, was zu retten war.
„Wir brauchen einen Plan,“ sagte die resolute Antonia. „Zuerst müssen wir alles rauswerfen, was wir nicht benötigen. Dann müssen wir mit der Bank reden, ob sie uns kurzfristig einen weiteren Kredit geben. Das wird verdammt schwierig werden, aber ich schau mal, was ich tun kann.“
„Ich kann auf das Gartengrundstück meiner Tante eine Hypothek aufnehmen. Es gehört jetzt mir. Da es Bauerwartungsland ist, wird die Bank nicht abgeneigt sein, es als zusätzliche Sicherheit anzuerkennen.“ Bedrückt wischte sich Lilli über die Augen.
„Das ist das Mindeste, das ich tun kann, nachdem ich so einen Bock geschossen habe.“
Michelle legte ihr den Arm um die Schulter und tröstete sie. Diesen Fehler hatten sie alle begangen. Sie hatten einem völlig Fremden ihre Finanzen anvertraut und sich nicht weiter darum gekümmert. Und Ludger war nicht der Einzige, dem sie einen Haufen Geld hinterhergeworfen und nichts zurückerhalten hatten.
Sie atmete tief durch. „Und ich werde Paul rauswerfen.“
„Was?“ Antonia fuhr auf. „Das kannst du nicht machen. Er hat einen Vertrag mit uns. Außerdem sind seine Ideen...“
„Absoluter Mist,“ beendete Michelle ihren Satz. „Wir brauchen ihn nicht. Ich kenn mich aus. Ich weiß, was ich will. Ich bin durchaus in der Lage den Markt zu beurteilen. Dann habe ich dich Organisationstalent an meiner Seite, die mir zuarbeiten kann. Paul kostet uns Geld, das wir nicht haben. Er geht. Das ist mein letztes Wort.“
Die drei Frauen machten sich an die Arbeit. Antonia vereinbarte einen Termin bei der Bank und dem Finanzamt. Lilli überwies von ihrem Erbe die dringendsten Rechnungen.

Kurz darauf erschien Paul. Michelle trat ihm entgegen und forderte ihn auf, sie ins Büro zu begleiten. Dort sagte sie ihm ohne alle Umschweife, seine Dienste würden nicht mehr gebraucht.
„Das kannst du nicht machen, Michelle. Nur weil es nicht nach deinem Schädel geht, kannst du mich nicht rausschmeißen. Wir haben einen Vertrag, an den selbst du dich halten musst. Auch wenn du hier der kreative Kopf bist.“
Antonia, die zur Tür hereinkam, mischte sich ein: „Tut mir leid, Paul. Das ist nicht allein Michelles Entschluss. Lilli und ich sind der gleichen Meinung. Wir haben einen Kassensturz gemacht. So wie es im Moment aussieht, können wir froh sein, wenn wir unsere Firma am Laufen erhalten. Jede überflüssige Geldausgabe – und dazu gehört ein Berater für das Kreative – können wir uns nicht mehr leisten.“
Verblüfft sah Paul die beiden Frauen an. „Ach so ist das.“
„Genau. So ist das,“ bestätigte ihm Michelle. „Mach bitte deine Rechnung fertig und gib sie Lilli. Ansonsten wünsche ich dir einen schönen Tag, Paul.“

Geschafft setzten sich die drei Freundinnen am Abend zusammen.
„Was haben wir nur falsch gemacht?“, resümierte Antonia. „Wir wollten doch alles richtig machen. Nichts haben wir dem Zufall überlassen, sondern uns bei jedem kleinen Detail beraten lassen.“
Michelle nahm einen großen Schluck aus ihrer Bierflasche.
„ich glaube, damit hast du den Finger in die Wunde gelegt, meine Liebe. Wir haben uns für jeden Schiet einen sogenannten Berater gesucht, egal was er kostete. Dabei haben wir nicht beachtet, dass wir uns deren Ratschläge zwar anhören, aber keineswegs befolgen müssen. Wir hätten unseren Kopf benutzen und selbst denken sollen. Wir hätten darüber reden müssen, ob die Vorschläge dieser vermeintlichen Berater für uns akzeptabel sind oder nicht. Das was für alle passt, muss nicht unbedingt für uns passen.“
„Ich glaube da, hast du recht, Michelle,“ meldete sich Lilli schüchtern. „Ich wollte ja nichts sagen, weil ihr alle so begeistert wart, von diesem Typen, der mir erklärte, wo ich das billigste Nähmaterial und die Stoffe bekomme. Ich hatte immer davon geträumt, meine eigene Schneiderei zu eröffnen. Da wollte ich edle Textilien verarbeiten. Nicht von Weberinnen aus Bangladesch, die für ein paar Kröten zusammen gepfercht in engen Räumen an ihren Webstühlen sitzen, oder gar von Kindern. Stattdessen habe ich genau das akzeptiert, weil es günstiger ist, weil wir damit konkurrenzfähig geblieben sind. Aber wohlgefühlt habe ich mich damit nicht. Durch meine Zustimmung habe ich mich genauso schuldig gemacht, wie all die anderen Ausbeuter, die ich ein Leben lang verachtet habe. Ohne diesen sogenannten Berater hätte ich meine Beziehungen spielen lassen. Da gibt es eine kleine Webfabrik im Sauerland. Die arbeiten nachhaltig, aber die Lieferung dauert halt länger und ihre Kapazitäten sind beschränkt. Mir würde es gefallen, diese Menschen zu unterstützen.“
„Warum hast du denn nichts gesagt?“, wunderte sich Antonia.
„Ihr wart doch beide so begeistert von diesem Heini. Was hätte ich da sagen sollen? Außerdem waren seine Argumente kaum von der Hand zu weisen. Billig, schnell, keine Wartezeiten, so viele Waren, wie wir brauchen.“
Einen Moment schwiegen die ihre Mitstreiterinnen.
„Du hast recht, Lilli. Wir haben uns blenden lassen. Wir haben einen Berater nach dem anderen hier angeschleppt und sind diesem gedankenlos gefolgt. Sie haben uns ein großes X für ein U vorgemacht und wir haben sie dafür bejubelt.“ Michelle stand auf und legte jeder ihrer Freundinnen einen Arm um die Schulter.
„Ich sag Euch jetzt etwas. Wir fangen noch einmal neu an und dieses Mal machen wir es besser. Wir vertrauen auf unsere Intuition. Keine Berater mehr. Keine Kaiser, denen wir folgen. Wir sind selbst Kaiser. Genau deshalb haben wir diese Firma gegründet. Wir wollten unabhängig sein. Und was ist daraus geworden? Wir haben uns erneut von Fremden vorschreiben lassen, wie wir zu funktionieren haben. Dabei ist unsere Kreativität, unsere Arbeitsmoral unsere Freude am Leben den Bach hinunter gegangen. Nie wieder sage ich Euch! Wir brauchen keine Führer, Leiter, Denker. Das können wir selbst. Wir sind Kaiser!“
Antonia und Lilli prusteten laut los nach dieser Ansprache. Dann hoben sie ihre Bierflaschen, stießen mit Michelle an und riefen unisono: „Jawohl! Wir sind Kaiser!“
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