Birgit Loos

Annetts Story

Zitternd stand ich vor der Tür der „Seeligen Weinstube“. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Was, wenn ich es wieder vergeigte? Was, wenn sie mich dort nicht mochten? Wenn ich der Aufgabe nicht gewachsen war? Ich schalt mich eine Idiotin. Ich bewarb mich hier als Küchenhilfe, in einem kleinen Weinlokal, nicht als CEO in einem weltweit agierenden Konzern. Ein Gedanke, der mich keinen Schritt weiter brachte. Wie hypnotisiert starrte ich auf den Eingang, während in meinem Kopf Chaos herrschte.
Ich musste ich mich zusammen reißen. Meine Kinder hatten mich lange genug umsorgt. So als wären sie die Eltern. Mein ältester Sohn Alex war mein Rettungsanker, seit er in die Schule gekommen war. Seit dieser Zeit hatte er die Fürsorge für mich, seinen kleinen Bruder und seine Schwester übernommen.
Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann waren meine Kinder das Einzige, das ich in meinem Leben als Erfolg verbuchen konnte. Alex war Assistenzarzt für Kinderheilkunde in der Universitätsklinik in unserer Stadt. Sein Bruder Jo hatte eine abgeschlossene Ausbildung als Schreiner und Tischler. Er war ein begnadeter Handwerker. Meine Kleine, Julie, stand kurz vor ihrem Abitur. Sie war ein Überflieger wie Alex.
Meine Kinder hatten trotz ihrer denkbar miserablen Voraussetzungen ihren Weg im Leben gefunden. Ohne meine Hilfe. Im Gegenteil. Ich war der Bremsklotz. Seit Jahren litt ich an Depressionen. An manchen Tagen schaffte ich es morgens nicht einmal aus dem Bett. Alles außerhalb meines Schlafzimmers war eine untragbare Bürde für mich. Es kümmerte mich nicht, ob Julie zur Schule ging. Ob genug Lebensmittel im Kühlschrank waren. Es drang nicht durch meine Blase, dass mein Ältester mitten im Studium steckte und er nebenbei im Schichtdienst als Rettungssanitäter arbeitete. Es gab Zeiten, da bekam ich es nicht einmal mit, dass meine Kinder stahlen, um essen zu können. Währenddessen ich, ihre Mutter, mich in den Bettlaken verkroch und mein Elend beklagte.
Wieso meine Kids ihr Leben lang trotzdem auf meiner Seite standen und versuchten mir helfen, werde ich nie verstehen. Verdient hatte ich es nicht.
Mein letzter Zusammenbruch war vor etwa über zwei Jahren. Damals zog Alex aus in eine billige Studentenbude. Ich zog alle Register, tobte, weinte, verkroch mich in meinem Zimmer, um ihn umzustimmen. Er blieb standhaft und beharrte darauf, erwachsen zu sein und ein Recht, auf seine Unabhängigkeit zu haben. Er brachte mich in einer psychologischen Studie in er Uniklinik unter. Meine Kinder wechselten sich ab, um mich zu meinen Therapiestunden zu begleiten, um sicherzugehen, dass ich hinging. Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, dass wir ohne Alex auskommen mussten. Ich telefonierte so oft wie möglich mit ihm und einmal in der Woche hatten wir ein Familientreffen. Jo kochte dann für uns alle. Jeder erzählte von seinen Erlebnissen und freute sich, dass wir zusammen waren. Sobald diese Abende endeten, legte ich mich ins Bett und weinte in die Kissen. Meine Panik, dass Jo und Julie mich ebenfalls verlassen könnten und ich allein zurückbleiben würde, hilflos der unberechenbaren Welt ausgeliefert, wuchs mit jedem Treffen. Je harmonischer diese Tage waren, umso größer waren meine Ängste im Anschluss daran.
Es brauchte seine Zeit, bis ich einsah, dass ich meine Kids loslassen musste. Ich erkannte, dass es selbstsüchtig war, sie mit meiner lebenslangen Pflege zu belasten. Ihre Kindheit war ein Desaster gewesen. Insbesondere für meine beiden Jungen. Ihr Vater war Alkoholiker. Im Suff wurde er zu einem anderen Menschen. Brutal, aufbrausend, rachsüchtig. Mehr als einmal landeten wir in der Klinik. Es endete erst, als er erneut auf seinen sechzehnjährigen Sohn Alex einschlug und dieser instinktiv zurückschlug. Dieses Mal kam der Notarzt zu Richard, während mein Sohn über sich selbst entsetzt, zitternd dabei zusah, wie man seinen Vater in einen Rettungswagen verfrachtete. Sobald er aus der Klinik entlassen wurde, packte mein Mann seine Sachen und verschwand.
Das war zum Glück Vergangenheit. Jetzt, in der Gegenwart stand ich vor der Tür dieser Weinstube, und konnte mich nicht dazu bringen, dort einzutreten. Unentschlossen drehte ich mich um. Besser, ich ging wieder. Meine Kids würden das verstehen. Doch dann schüttelte ich energisch den Kopf. Nein! Die Therapeutin hatte recht. Ich musste endlich für mich Verantwortung tragen. Ich war so weit. Der erste Schritt in diese Richtung war die Suche nach einem Job.
Ich hatte in der Vergangenheit verschiedene Jobs hinter mich gebracht. Als Reinigungskraft, als Küchenhilfe. Im Supermarkt hatte ich Waren in die Regale geräumt. Packerin war ich gewesen, in einem Logistikunternehmen. Nie für lange. Ich konnte mich nicht eingewöhnen. Zu viele Leute um mich herum, zu laut, zu derb. Die Anforderungen waren zu hoch. Die Arbeit zu hektisch. Bald war ich wieder arbeitslos. Die meiste Zeit lebten wir von Sozialhilfe und dem bisschen Geld, das die Jungs sich verdienten. Gartenarbeiten, Zeitungen austragen, Putzarbeiten in einer Muckibude. Nie beschwerten sie sich, sondern taten, was getan werden musste. Daran sollte ich mir ein Beispiel nehmen. Mit weichen Knien ging ich erneut auf die Tür zu. Zögernd hob ich die Hand, um die Klingel zu betätigen.
„Frau Brandes?“, hörte ich eine Stimme hinter mir.
„Ja?“, zögerlich drehte ich mich um.
Der Mann, der mich angesprochen hatte, war groß. Fast so lang aufgeschossen, wie mein Jo. Er hatte dickes, graues Haar, das perfekt frisiert war. Seine Augen waren freundlich und erinnerten mich an einen Rehbock, aus einem Kinderbuch, das ich Julie einst vorgelesen hatte. Er lächelte mir herzlich an. Dadurch erst fielen mir die Grübchen auf, die sich tief in seine Wangen eingruben.
„Norbert Seelig. Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Aber ich hatte zuvor noch einen Termin, der sich länger hinzog, als ich es ursprünglich geplant hatte.“
„Oh,“ versuchte ich meiner Stimme Halt zu geben. „Nicht schlimm.“
Er öffnet mir die Tür und winkte mich hinein. Zögerlich folgte ich ihm. Lieber wäre ich vor ihm geflohen. So dämlich, wie ich mich verhielt, würde das ohnehin nichts werden mit dem Job.
„Kommen Sie. Ich zeige Ihnen erst einmal alles.“
Ich folgte ihm durch die spärlich beleuchtete Weinstube in die Küche. Diese war hypermodern, blitzend in Weiß und Silber. Strahlend sauber. Die Augen taten einem weh, von dieser Pracht.
„Das wäre dann Ihr Arbeitsplatz. Ich würde mich freuen, wenn Sie bereits am Samstagnachmittag antreten könnten. Unsere Bettina wird erleichtert sein, wenn sie schnellstmöglich ihre Aufgaben übernehmen könnten. Ihre Eltern sind von jetzt auf gleich pflegebedürftig geworden. Sie wird zukünftig an zwei Tagen in der Woche kommen und das auch nur, wenn sie die alten Leutchen allein lassen kann. Deshalb wäre ich froh, wen Sie sie möglichst bald einspringen können. Ich hoffe, Sie sind flexibel. Wie gesagt, da Bettina ihre Eltern pflegt, kann es sein, dass sie Schichten mit ihnen tauschen muss. Das wäre eine Voraussetzung.“
Er sah mich fragend an. Ich wusste nichts dazu zu sagen. Diese Bettina und ihre Eltern taten mir zwar leid. Aber ich hatte eigene Probleme und war keineswegs sicher, ob sich diese mit dem neuen Job vereinbaren ließen. Erwartete Herr Seelig, dass ich zu einer zweiten Bettina wurde, während ich bloß Annett war? Panik stieg in mir hoch. Ich musste hier raus. Das war der falsche Job für mich.
„Ich...Äh...also nein,“ stotterte ich. „Ich meine...Ja... ich könnte...“ Nicht nur Herr Seelig fragte sich, was ich ihm mit meinem Gestammel sagen wollte. Ich war mir ebenfalls nicht sicher. Er lächelte mich freundlich an. Herrje dieses Grübchen, machte mich völlig konfus. Dafür benötigte man sicherlich eine Lizenz.
„Reiß dich am Riemen, Annett,“ ermahnte ich mich. Ich holte tief Luft. Mein Sohn Alex hatte mir vor einiger Zeit gesagt, dass er gegenüber seinen Lehrern und Vorgesetzten immer ehrlich sei und ihnen seine private Situation von Beginn an offenlegte. Er vermied damit Missverständnisse und konnte mit Entgegenkommen rechnen, wenn er gezwungen war, seinen Dienst später anzutreten oder unverhofft Urlaub zu nehmen. Was, dank mir, oft vorkam.
Ich riss mich zusammen und nahm mir vor, mir Alex als leuchtendes Beispiel zu nehmen. Wenn ich weiter hier stand, wie ein Pflänzchen Rührmichnichtan und sinnlose Worte stammelte, würde Herr Seelig mich ohnehin nicht einstellen. Da konnte ich gleich die Wahrheit sagen.
„Ich bin flexibel. Grundsätzlich. Manchmal bin ich es nicht. Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Ich habe seit Jahren gesundheitliche Probleme. Ich bin depressiv. Aber ich bin in Behandlung . Meine Therapeutin fand es an der Zeit, dass ich wieder am Arbeitsleben teilnehmen sollte. Sie war dabei, als ich sie angerufen haben, nachdem wir gemeinsam die Stellenanzeigen durchgegangen sind. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mich sicher gefühlt. Jetzt kriecht mir die Angst bis ins Knochenmark. Ich weiß nicht, ob ich eine Frau ersetzen kann, der sie wie es scheint, vertraut haben. Aber ich möchte es versuchen. Ich brauche eine Aufgabe. Meine Kinder sind erwachsen. Ehrlich gesagt, passen sie seit langer Zeit auf mich auf, nicht umgekehrt. Bei uns zu Hause ist alles auf den Kopf gestellt. Ich kann ihnen aus heutiger Sicht folgendes versprechen, wenn sie meinen Schichtplan Jo und Julie vorlegen, dann werden sie dafür sorgen, dass ich pünktlich bin. Aber ich fest entschlossen, es ohne sie zu schaffen. Ich will das hier nicht vermasseln. Ich habe schon zu viele Jobs vermasselt. Meine Kinder sollen endlich einmal stolz auf mich sein. Mein ältester Sohn, Alex ist Arzt. Das sage ich ihnen nur, damit sie sehen, dass sie ihr Leben im Griff haben. Selbst wenn sie sich um ihre verrückte Mutter kümmern mussten. Jetzt ist jedoch die Zeit gekommen, ihnen zu beweisen, dass ich ohne sie zurechtkomme. Trotzdem besteht jederzeit die Möglichkeit, dass ich an der mir gestellten Aufgabe scheitere. Dann liege ich zu Hause im Bett und schaffe es nicht einmal mehr, das Telefon zur Hand zu nehmen und ihnen abzusagen. Ich muss Ihnen das sagen. Es kann sein, dass sie in Schwierigkeiten geraten, wenn dann Ihre Frau Bettina ebenfalls nicht kommen kann.“ Ich schwieg verlegen, bevor ich ein leises, unsicheres Lachen hören ließ:
„Nicht die beste Rede, um sich für eine Stelle zu bewerben, nicht wahr?“
Herr Seelig lächelte mich wieder an. Mein Blick biss sich an seinem Grübchen fest. Ein Mann mit so einem Lächeln würde mich nicht mit Schimpf und Schande aus dem haus jagen, redete ich mir ein. Er schwieg eine ganze Weile und dachte nach. Ich machte mir keinerlei Hoffnungen mehr. Diesen Job konnte ich vergessen. Bestimmt überlegte er sich, wie er mich auf höfliche Weise loswerden konnte. Doch zu meiner Überraschung kam es anders.
„Frau Brandes. Ich schätze Ihre Ehrlichkeit. Ich möchte es gerne mit Ihnen versuchen. Wir machen das so. Sie melden sich am Samstag um 16.00 Uhr hier bei mir. Dann stelle ich Sie den Kolleginnen vor. Wir sind hier ein reines Frauenhaus, mit mir als Chef. Bettina wird sie einarbeiten. Wir geben dem Ganzen eine Probezeit, von sagen wir mal, einem viertel Jahr. Sollten Sie merken, dass Sie überfordert sind, lasse ich Sie jederzeit wieder gehen. Genauso machen wir es umgekehrt. Ich werde Sie bitten, zu gehen, wenn ich der Meinung bin, das Sie nicht in unseren Betrieb passen. Einverstanden?“
„Ich....Äh....Nein. Ich meine Ja! Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“
Das Grübchen vertiefte sich ein wenig mehr. Schnell sah ich in eine andere Richtung.
„Ganz einfach. Sie sagen die Wahrheit, wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie merken, dass dieser Job doch nicht das Richtige für Sie ist. Ich will keine faulen Entschuldigungen oder Lügen hören. Ich möchte, dass Sie mir vertrauen, und ich möchte Ihnen vertrauen können.“
Damit hielt er mir seine Hand hin. Ohne groß weiter nachzudenken, schlug ich ein. Norbert Seelig brachte mich zur Tür. Völlig überfordert mit der Situation ging ich zu meinem Bus und versuchte, mich darüber zu freuen, dass ich ab Samstag meinen Job als Küchenhilfe in der „Seeligen Weinstube“ antreten würde.

Meine Tochter brachte mich bis vor die Tür meiner neuen Arbeitsstelle.
„Hals- und Beinbruch, Mama,“ flüsterte sie mir ins Ohr, während sie mich umarmte. Nervös sah ich ihr hinterher. Ich rieb meine schweißnassen Hände an meinem Mantel trocken und atmete mehrmals tief durch, bevor ich mich endlich traute die Tür zu meiner neuen Arbeitsstätte zu öffnen.
Norbert Seelig trat mir freudestrahlend entgegen.
„Da sind sie ja. Pünktlich auf die Minute. Kommen Sie, ich stelle Sie Ihren Kolleginnen vor. Ihren Mantel können sie hierhin hängen.“ Damit deutete er auf die Garderobe neben der Tür. Mit einem dicken Kloß im Magen folgte ich ihm.
„So, meine Damen. Das ist Annett Brandes. Sie wird uns ab sofort in der Küche helfen. Annett, dies ist Lore Richter, unsere Köchin. Das hier ist Bettina Vogler, das Herz unseres Teams und deren Vertretung sie antreten, wenn sie bei ihren Eltern Dienst tut. Diese junge Dame,“ er deutete auf ein Mädchen, das etwa Anfang zwanzig war, „ist unsere Jacquie. Sie unterstützt mich draußen beim Bedienen.“
Ich fasste mir ein Herz und ging auf meine neuen Kolleginnen zu, schüttelte jeder die Hand und verdrängte die Frage, ob sie mich mochten oder nicht. Bettina trat mir äußerst resolut entgegen.
„Na, endlich bekommen wir Hilfe. Du kannst deine Tasche dort in die Ecke stellen, dann zeige ich dir, wo alles ist, und mache dich mit deinen Aufgaben vertraut. In der Küche führt Lore das Regiment. Was sie sagt, hat absoluten Vorrang, denn sie ist für die Fütterung der Raubtiere zuständig. Ist der Gast nicht zufrieden, wird der Chef grantig. Ein unzufriedener Boss hinterlässt eine angefressene Köchin, welche wiederum uns arme Küchenhilfen dafür büßen lässt.“
Erschreckt sah ich von Lore zu Bettina und dann zu Walter Seelig. Der lachte herzhaft. „Nur keine Sorge, Annett. Ich darf doch Annett sagen? Wir sind hier ein eingespieltes Team und nennen und alle beim Vornamen. Sie werden sehen, hier wird niemand gefressen. Wir kennen die Fehler und Macken des anderen und haben gelernt, damit umzugehen.“
Ich hoffte, dass dieser Teamgeist sich ebenfalls auf mich erstrecken würde, denn ich hatte mehr Mängel und Eigenarten, als man an einer Hand abzählen konnte. Doch das waren nutzlose Gedanken. Ich versuchte sie in die hinterste Ecke meines Gehirns zu sperren und konzentrierte mich stattdessen auf Bettina, die mir meine zukünftigen Aufgaben erklärte.
„Keine Panik. Das wird schon. Frag, wenn du etwas suchst. Ich bin mir sicher, dass du in kurzer Zeit den Überblick hast.“
Ich wünschte mir sehnlichst, ich könnte Bettinas Optimismus teilen und begann die Salatköpfe zu waschen. Während die Köchin und Bettina plauderten, deckte Jacquie die Tische ein und füllte die Blumenvasen mit frischem Wasser. Walter Seelig sorgte für den Nachschub, was die Getränke anging. Ich hatte mittlerweile die Salatblätter auf verschiedene Teller verteilt und bekam den Auftrag, als nächstes Zwiebeln zu schneiden. Ich seufzte. Zu Hause tat das immer Jo, weil ich Ozeane von Tränen weinte, wenn ich dieses Gemüse schnitt. Aber hier konnte ich die Arbeit nicht weiter delegieren. Schon bei der ersten Zwiebel stand mir das Wasser in den Augen und ich konnte nichts mehr sehen. Verstohlen versuchte ich, mir die Tränen abzuwischen. Damit steigerte ich die Tränenflut nur. Bettina grinste:
„Ja, das kenne ich. Diese Heulerei über ein paar Zwiebeln. Hier, ich habe etwas für dich. Sieht nicht schön aus, aber es hilft. Der Chef bekommt jedes Mal einen Lachanfall, wenn ich das Ding aufsetze. Ist mir jedoch egal. Er sollte sich lieber darüber freuen, dass seine Gäste ihren Salat bekommen. Es würde ewig ohne dieses Hilfsmittel dauern. Aber zugegeben, es sieht bescheuert aus.“
Skeptisch sah ich auf die Taucherbrille, die sie mit über den Tisch reichte. Das war nicht ihr Ernst. War das so eine Art Willkommensritual? Wollte sie, dass ich mich lächerlich machte? Was sollte Herr Seelig von mir denken, wenn er die Küche betrat und mich mit diesem Ungetüm auf der Nase arbeiten sah? Jo erzählte mir einmal von den derben Aufnahmeritualen, die unter Handwerkern üblich waren. Sollte dies etwas Ähnliches werden?
Lore kicherte und versuchte, ihr Amüsement mit einem Husten zu verstecken. Ich war mir absolut sicher, die beiden Frauen wollten mich in den April schicken, mitten im Oktober.
„Probier es wenigstens mal aus. Wenn es nicht hilft, kannst du sie ja wieder absetzen,“ forderte mich Bettina heraus.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie würde meine smarte Tochter reagieren? Ich sah Julie vor mir, wie sie grinsend und Gesichter schneidend die Brille über den Kopf zog, um sich mit dann mit Vehemenz auf ihre Aufgabe zu stürzen. Was hatte ich zu verlieren? Ich stülpte mir die Taucherbrille über, ergriff das scharfe Messer und säbelte drauflos. Genau in diesem Augenblick ging die Tür auf und Walter Seelig betrat die Küche. Bei meinem Anblick brach er in lautes Gelächter aus. Wütend biss ich mir auf die Lippe. Wieder einmal hatte ich mich völlig lächerlich gemacht.
„Wenn Sie nicht wollen, dass ihren Gästen wässriger Salat serviert wird, dann werden Sie sich damit abfinden müssen, dass ich beim zwiebelschälen diese Brille trage. Ob Sie es glauben oder nicht, dieses alberne Teil stoppt den Tränenfluss,“ fuhr ich trotzig meinen neuen Chef an.
Der wischte sich die Lachtränen aus den Augen.
„Nichts für ungut. Ich lache mich jedes Mal schräg, wenn ich in meine Küche komme und feststelle, dass man diese mit einem Schwimmbecken verwechselt. Der Anblick ist zu komisch und hat nichts mit Ihnen zu tun, Annett. Es ist skurril. Ich sollte es mir patentieren lassen. Aber jeder Beamte auf dem Patentamt würde mich für völlig bekloppt halten, wenn ich ihm damit komme.“
Jetzt lachten sie alle und ich stimmte mit ein. Dabei zog ich einige fürchterliche Grimassen hinter dem dicken Glas der Taucherbrille. Sobald das Lachen erstarb, schämte ich mich für mein albernes Verhalten. Was sollten meine neuen Kollegen nur von mir denken? Wie sich später herausstellte, war dies jedoch der Moment, wo sie mich akzeptierten. Es wurde ein lockerer Abend. Wir hatten jede Menge zu tun und mussten gehörig rennen. Aber es herrschte ein angenehmer Umgangston. Es wurde gescherzt und gelacht. Um zehn wurde die Küche geschlossen und wir fingen an, zu putzen. Lore legte Wert auf unbedingte Sauberkeit. Sie erklärte, dass morgen früh, das Putzkommando einfallen würde, wie sie sich ausdrückte. Trotzdem wollte sie nicht, dass dieses die Überreste des Abends wegräumen musste. Wir stellten das gebrauchte Geschirr in die Maschine, wischten die Arbeitsplatten und den Herd sauber. Ich fühlte mich großartig, bis Bettina mich fragte, ob ich diese Arbeit machen könne, ohne sofort in Depressionen zu verfallen. Entsetzt starrte ich sie an.
„Was soll das heißen?“ Mein Gesicht wurde puterrot.
„Der Chef hat uns gesagt, dass du psychische Probleme hast und wir dir helfen sollen, wenn du es nicht schaffst.“
Ich fühlte, wie meine Wangen brannten. Das konnte er doch nicht tun. Ich hatte diesen Mann mein Vertrauen geschenkt und was tat er? Er tratschte es brühwarm seinen Angestellten weiter. Ich war noch nie so beschämt worden.
Mühsam versuchte ich, Haltung zu bewahren. Ich musste sofort hier raus. Dabei hatte es sich so gut angelassen. Aber hier konnte ich auf keinen Fall bleiben. Es war mir nicht möglich, hier zu arbeiten. Meine Kinder würden enttäuscht sein, weil ich es nicht länger als einen Tag ausgehalten hatte. Doch sie würden es verstehen, wenn sie hörten, wie mein Chef mein Vertrauen missbraucht hatte. Ich riss ich zusammen und stand auf.
„Ich würde es schon schaffen. Mir hat es hier gefallen, bis zu dem Moment, wo ich zur Lachnummer wurde. Mit einer Verrückten, die ohnehin ständig am Flennen ist, kann man seine Scherze machen. Ich dachte, man würde mich hier respektieren und die ganze Sache mit der Taucherbrille wäre als Hilfe gedacht. Stattdessen habt ihr nur eine Blöde gesucht, die ihr verarschen könnt. Schön, ich hoffe, Ihr hattet Euren Spaß daran. Tut mir leid, ich werde nicht wieder kommen. Sucht euch eine andere Dumme. Ich finde es völlig unangebracht, dass Herr Seelig ein vertrauliches Gespräch über meine gesundheitlichen Probleme an seine Mitarbeiter weitergibt. Das muss ich mir nicht gefallen lassen. Auf Wiedersehen oder besser Adieu.“
Diese Reaktion war völlig untypisch für mich. Doch ich fühlte mich derart verletzt in diesem Moment, dass ich redete, ohne darüber nachzudenken. Innerlich zitterte ich wie Espenlaub. Bevor ich endgültig die Haltung verlor, ergriff ich meine Tasche und versuchte zu flüchten. Bettina hielt mich auf.
„Jetzt renn nicht weg. Ich entschuldige mich bei Dir für meine unangemessene Bemerkung. Setz dich. Ich will dir etwas über unseren Chef erzählen.“
„Ich will nichts hören. Lass mich gehen!“
„Setz dich, hab ich gesagt.“ Sie drückte mich auf einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber.
„Ich sehe ein, dass du sauer darüber bist, dass Norbert uns über deine psychischen Probleme informiert hat. Aber er hat es nur gut gemeint.“
Ich schnaubte wütend auf. Doch Bettina ließ sich dadurch nicht aufhalten.
„Er hat es getan, weil wir wissen, wie wir mit jemanden, der depressiv ist, umgehen müssen.“
Verblüfft gab ich meinen Widerstand auf. Sie nickte nachdrücklich.
„Wir arbeiten alle schon seit Jahren für Norbert. Wir kennen uns in- und auswendig. Jede kleine Macke, jede Krankheit, jedes Wehwehchen. Das war bereits so, als seine Frau Steffi noch lebte. Sie litt unter Depressionen, wie du. Wir wussten, wie wir sie zu handhaben hatten. Wir gaben auf sie acht, wenn der Chef es nicht konnte. Guckten, dass sie ihre Tabletten nahm. Versuchten sie mit Scherzen und kleinen Arbeiten von ihrem Seelenschmerz zu erlösen. Aber es half nichts. Vor fünf Jahren ist sie runter ans Rheinufer gegangen und hat sich ertränkt. Wir hatten eine große Gesellschaft damals, alle Hände voll zu tun. Steffi hätte uns helfen sollen. Doch an diesem Tag stand sie völlig neben sich. Bis wir ihr Fehlen bemerkten, war es längst zu spät. Norbert war untröstlich. Er machte sich jahrelang Vorwürfe, dass er es nicht mitbekommen hatte, als sie sich fortschlich.“
Der Mann tat mir leid. Es musste furchtbar für ihn gewesen sein. So etwas würde ich meinen Kindern nie antun.
„Ach ja? Das würdest du nicht tun?“
Eine leise Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass ich schon oftmals kurz davor gewesen war, diesen letzten Schritt zu gehen. Dann hätte alles ein Ende. Nicht nur für mich. Auch für Alex, Jo und Julie. Keine verrückte Mutter mehr, auf die sie aufpassen mussten.
„Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat? Wieso er eine private Information an Sie weitergegeben hat. Egal, was mit seiner Frau passiert ist. Das hätte er nicht tun dürfen,“ begehrte ich auf.
„Sie haben recht. Ich entschuldige mich bei Ihnen, Annett. Ich hätte einen solchen Vertrauensbruch nicht begehen dürfen.“
Norbert Seelig stand auf einmal im Türrahmen. Zögerlich kam er auf mich zu. Ich schüttelte wild den Kopf.
„Nein, das hätten Sie nicht tun dürfen,“ bestätigte ich ihm, wütend und gleichzeitig tief traurig. Meine Hoffnungen, hier einen Platz gefunden zu haben, wo man mich mochte und respektierte, waren von ihm zerstört worden.
„Ich habe nur eine Entschuldigung dafür: Ich wollte sie beschützen. Sie waren so verängstigt bei unserem Bewerbungsgespräch. Dann erzählten Sie mir von ihrer Depression. Sofort war mir meine Frau gegenwärtig. Ich wusste, wenn ich Sie wegschicken würde, würden Sie sich so schnell nicht wieder trauen, eine Bewerbung abzugeben. Andererseits, wenn ich Sie einstellte, wollte ich, dass meine Angestellten Verständnis für Sie hätten. Es ist so, wie Bettina sagte, wir kennen uns seit Jahren. Sie wissen, was es bedeutet, wenn jemand psychisch krank ist. Ich wollte sichergehen, dass man Sie hier gut behandelt. Ihnen hilft. Diese Frauen hier, waren mir eine große Hilfe mit Steffi. Sie waren ihre Freunde. Menschen, die sie auffingen. Deshalb dachte ich, es wäre für alle Beteiligten am besten, wenn sie über Ihre gesundheitlichen Probleme Bescheid wüssten. Aber Sie haben recht, ich hätte Sie fragen müssen. Das war unverzeihlich von mir.“
Ich nickte nachdrücklich. Ja, genau er hätte mich fragen müssen. Norbert legte seine Hand auf meine.
„Bitte, kommen Sie morgen wieder, Annett. Es würde ich freuen. Niemand wird Sie hier schief ansehen oder Ihnen Vorwürfe machen. Im Gegenteil. Ich bin davon überzeugt, dass Sie genau hier am richtigen Ort sind. Sprechen Sie mit Ihren Kindern, ihrer Therapeutin und geben Sie sich selbst und uns allen eine Chance. Werden Sie Teil unseres Teams, bitte.“
Ich sah in seine rehbraunen Augen, die mich so bittend ansahen. Ein Lächeln schlich sich in seine Mundwinkel und dieses unfassbare Grübchen pikte in seiner Wange hervor.
„Also gut,“ hörte ich mich sagen. „Ich komme morgen wieder.“
Den ganzen Weg nach Hause fragte ich mich, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

In den folgenden Wochen wurde ich Teil des Teams der „Seeligen Weinstube“. Ehrlich gesagt, war ich überrascht, wie gut es mir dort gefiel. Obwohl ich weiter nichts als Hilfsarbeiten leistete, fühlte ich mich keineswegs weniger wichtig. Im Gegenteil. Im Laufe der Zeit übernahm ich mehr und mehr Arbeiten von Bettina, so dass diese sich beruhigt um ihre Eltern kümmern konnte. Seit ich begonnen hatte in diesem Lokal zu arbeiten, hatte ich nicht einen Tag gefehlt. Mittlerweile wusste ich, dass bis zur Öffnung des Lokals jede Menge Arbeit zu leisten war. Wie Norbert mir zu Anfang gesagt hatte, waren er und seine Mitarbeiterinnen ein eingespieltes Team. Jeder Griff saß. Gegen jede Erwartung passte in diese Truppe hinein, wie handgeschnitzt. In kurzer Zeit hatte ich heraus, was man von mir verlangte. Ich sah, wo eine helfende Hand nötig war und tat, ohne zu hinterfragen, meine Arbeit. Es wurde viel gelacht, während der Arbeit und nach Feierabend. Norbert und Jaquie gaben dann herrliche Anekdoten zum Besten. Wir amüsierten uns über ihre schauspielerischen Talente, wenn sie einen nervigen Gast kopierten.
Ich blühte auf. Die Zeiten, wo ich zu Hause festsaß, und Trübsal blies, schienen vorbei zu sein. Mein Ältester sah mich oftmals prüfend an, wenn er zu Besuch kam. Er hielt meine erstaunliche Wandlung für eine weitere Laune meiner Krankheit und achtete mit Argusaugen darauf, dass ich meine Medikamente nahm. Ich ärgerte mich über die übertriebene Fürsorge meines jungen Herrn Doktors. Andererseits hatte er viele Rückschläge mit mir erlebt und schaffte es aus verständlichen Gründen nicht, mit zu vertrauen.
Bald fühlte ich mich in der „Seeligen Weinstube“ wohler, als zu Hause. Zum Glück für mich hatten meine Jungs genug mich sich selbst zu tun. Beide waren seit kurzem verliebt. Alex war unfreiwillig Vater seines kleinen Halbbruders geworden. Mein Ex Mann und seine Frau hatten Alex gebeten, sich nach ihrem Tod um ihren gemeinsamen Sohn zu kümmern. Robin war erst acht Jahre alt. Bei einem Autounfall war er schwer verletzt worden. Kurz danach hatte er seine Eltern verloren. Durch den Familienzuwachs mussten wir Kompromisse schließen und waren vor ein paar Wochen umgezogen. Der Vater von Julies Freundin besorgte uns zwei gegenüberliegende Wohnungen in seinem Mietshaus. Alex und Robin zogen in das eine Domizil und Jo, Julie und ich das zweite. Wir mussten uns alle an diese neuen Lebensumstände gewöhnen, was nicht so leicht war. Deshalb fand ich es beruhigend, einen Ort zu haben, wohin ich flüchten konnte, wenn es mir zu Hause zu viel wurde. Hier hatten alle ein offenes Ohr für meine Probleme. Sie hörten mir zu und sie brachten mich zum Lachen. Mein Verhalten änderte sich. Sobald ich merkte, dass ich ins Grübeln kam, verkroch ich mich nicht in meinem Bett, sondern ging in die Weinstube. Ich machte meine Arbeit und versuchte, unsichtbar zu werden, bis es den Kollegen zu viel wurde. Lore gab mir Lektionen im Kochen. Bettina rief an und fragte nach Klatsch und Tratsch aus dem Weinlokal. Sie meinte, sie sei am Durchdrehen, denn sie käme kaum aus dem Haus und benötige Aufmunterung.
Ich lachte: „Ausgerechnet bei mir suchst du danach. Ich bin selbst im Keller mit meiner Laune. “
„Okay! Wir heitern uns gegenseitig auf. Ich rufe meinen Bruder und seine Frau an. Ich habe noch etwas gut bei ihm. Er soll heute Abend nach unseren Eltern sehen, damit ich mir eine Auszeit nehmen kann. Morgen ist Ruhetag. Was hältst du davon, wenn wir uns am Markt treffen und essen gehen?“
Ich wollte nicht. Aber als ich zögerte, ließ Bettina ein schmachtendes:
„Bitte!“, hören. „Ich komm sonst nicht raus aus meinen Trott und ich brauche etwas Abwechslung.“
Zögernd sagte ich zu. In meinem Kopf arbeitete ich sämtliche Ausreden durch, um nicht gehen zu müssen. Leider war keine davon glaubhaft. Mir fehlte die Fantasie, um mich aus diesem Treffen herauszuwinden. Andererseits verdankte ich Bettina eine Menge. Ich fand es unfair, sie jetzt hängen zu lassen. Ich würde mit ihr eine Kleinigkeit essen gehen und mich dann verabschieden. Wenn ich mich den Rest des Abends und den ganzen morgigen Tag im Bett verkroch, dann so hoffte ich, würde ich bis zum Antritt meines Dienstes wieder fit sein.

Bettina kam nicht allein. Nein, sie hatte sowohl Lore als auch Jaquie eingeladen. Kaum saßen wir an unserem Tisch in dem italienischen Restaurant, kam Norbert Seelig dazu. Innerlich stöhnte ich. Mein Plan, mich vorzeitig zu verabschieden, konnte ich vergessen. Das hier war Intervention, um mich aus meinem seelischen Loch zu holen. Meine Kollegen hatten sich gegen mich verschworen.
Im Laufe des Abends entspannte ich mich etwas. Bettina erzählte von ihren Eltern und den neuen Aufgaben, die sie notgedrungen übernehmen musste. Sie stöhnte:
„Ich wurde zur Krankenpflegerin. Zu ihrer Vermögensberaterin. Zu Ihrem Kindermädchen. Das alles ohne Ausbildung. Es strengt mich an und ich bin oftmals am Ende mit meinen Nerven.“
„Wenn man muss, dann kann man es auch,“ entgegnete ausgerechnet ich. Meine Wangen nahmen eine dunkle Tönung an und ich versuchte zu erklären:
„Das sagt Alex immer zu mir. Seit er ein kleiner Junge war, hat er auf mich und seine Geschwister aufgepasst. Keiner hat ihm je erklärt, was er tun muss. Er tat es, weil es sonst niemanden gab.“ Verlegen verstummte ich, denn ich wollte Bettina keineswegs schulmeistern.
Bettina stöhnte. „Okay, wenn du mir dein Wunderkind vor die Augen hältst, dann werde ich mich wohl zusammenreißen müssen.“
„Er ist kein Genie. Er hat hart gearbeitet, um dorthin zu kommen, wo er jetzt ist. Und er arbeitet weiterhin eisern. Ihm wurde nichts geschenkt. Schon gar nicht von mir oder gar seinem Vater.“
Oh Gott, ich machte alles nur schlimmer. Ich stand hektisch auf und suchte nach einer Ausrede.
„Tut mir leid, Bettina. Ich sollte lieber gehen. Mir ist nicht gut.“
Sie sahen sich an und nickten dann. Norbert stand auf.
„Ich bringe dich nach Hause.“
Zögernd stimmte ich zu. Er holte meinen Mantel, bezahlte meine Rechnung, obwohl ich protestierte, und wir verabschiedeten uns von den anderen. Wir gingen durch die abendliche Stadt. Mein Chef gestand mir, dass er mit dem Bus gekommen war, denn er fuhr kein Auto, wenn er getrunken hatte. An der Bushaltestelle vor dem Theater wollte ich mich verabschieden. Doch er hielt mich fest:
„Ich lasse dich ungern gehen, Annett. Ich habe das Gefühl, du solltest jetzt nicht allein sein.“
„Ich bin nicht allein. Meine Kinder sind da,“ protestierte ich.
„Bist du sicher?“, fragte er leise.
Nein, das war ich nicht. Es mochte sein, dass Alex zu Hause war. Gemeinsam mit Jana und Robin. Da störte ich nur. Jo wollte heute mit Alina ausgehen und Julie hatte davon geredet, dass sie mit ihren Freunden fürs Abitur lernen wollte. Ich hatte dazu geschwiegen, während ihr großer Bruder süffisant die Augenbrauen hochzog.
„Aha. Lernen nennt man das heutzutage.“
Meine Tochter hatte nur gelacht, ihre Tasche geschnappt und die Tür hinter sich zugezogen.
„Na komm. Weißt du was, wir gehen in die „Seelige Weinstube“ und genehmigen uns einen Sauvignon. Nur du und ich.“
Wenn ich eine Möglichkeit gesehen hätte, ihn abzuwehren, wäre ich ihm nicht gefolgt. Aber ich wusste nicht wie.
Er öffnete die Tür, schloss hinter uns wieder ab. Dann machte er Licht, half mir aus dem Mantel und führte mich zu dem kleinen gemütlichen Separee, das von Beginn an wie ein Zufluchtsort mitten im Sturm auf mich gewirkt hatte.
Norbert verschwand und kam kurze Zeit später mit zwei Gläsern und einer Flasche Sauvignon blanc wieder.
„Ich brauch zum Wein, immer etwas zu knabbern. Du auch?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. Er ging hinter die Theke und holte eine Tüte mit Brezeln. Norbert füllte und unsere Gläser und wir stießen miteinander an.
„Auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit. Ich wusste es sofort, dass ich mit dir einen Glücksgriff getan habe,“ lächelte er mich an. Ich versuchte, meine fliegenden Gedanken und irrationalen Ängste in den Griff zu bekommen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das Grübchen in seiner Wange. Was eine blöde Idee war. Gefühle, die ich schon lange beerdigt geglaubt hatten, wurden wach. Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her. Norbert ergriff meine Hand und drückte sie sachte.
„Mach ihr dir solche Angst, Annett? Ich dachte mittlerweile, wir würden einander vertrauen.“
Ich nuschelte etwas vor mich hin, das kein Mensch verstehen konnte. Mutig trank ich einen großen Schluck. Es wurde Zeit, dass ich mich zusammenriss.
„Es tut mir leid. Ich sagte ja, dass ich heute einen unterirdischen Tag habe. Ich wollte Bettina nicht vor den Kopf stoßen. Allein aus diesem Grund bin ich gekommen.“
„Das ist gut. Wenn man unter Menschen ist, dann hat man keine Zeit, sich in seinem Gedankenkarussell zu verlieren. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich frage mich jeden Tag, ob ich den Selbstmord meiner Frau hätte verhindern können, wenn ich sie nicht allein gelassen hätte.“
Ich hob den Kopf und sah ihm in die Augen.
„Sie war nicht allein. Bettina erzählte mir, sie wäre den ganzen Tag mit ihnen in der Küche gewesen.“
Norbert seufzte und schwieg lange. Endlich sah er auf und blickte mir in die Augen.
„Du weißt doch selbst, dass man unter hunderten von Leuten einsamer sein kann als ein Eremit im Himalaya. Ja sie war bei uns. Körperlich. Seelisch war sie weit weg. Ich hätte es bemerken müssen. Aber ich war beschäftigt. Wir hatten an diesem Tag eine Hochzeitsgesellschaft, über fünfzig Leute. Nichts durfte schief gehen. Ich habe Steffi bei Lore in der Küche geparkt und dachte, das würde reichen. Aber Lore und Bettina waren im Stress. Die Hilfe, die ich für diesen Tag bestellt hatte, war nicht erschienen. Wir dachten, Steffi könnte ihre Arbeit übernehmen. Doch sie saß nur herum, spielte mit dem Gemüse und zupfte Fäden aus einem Stückchen Stoff, das sie wer weiß woher, hatte. In diesem Moment hätte ich reagieren müssen. Stattdessen lag mein Fokus auf den Gästen. Niemand realisierte, in welcher Verzweiflung Steffi gefangen war. Wir haben zu spät gemerkt, dass sie verschwunden war. Sie meinen beiden Mitarbeiterinnen zu überlassen, damit diese auf sie aufpassten, während sie im Stress waren, war gedankenlos. Nein, nicht nur das. Es zeigte eine Seite von mir, die ich nie wieder sehen möchte. Es war Überdruss, Ärger. Ich habe mein Verhalten bitter bereut, als man meine Frau, dann aus dem Rhein fischte. Erst da wurde mir klar, dass ich keine weitere Chance haben würde, meinen Fehler gutzumachen.“
Ich schwieg. Verlegen sah ich meinen Chef an. Sein Grübchen war verschwunden, in seinen Augen standen Tränen. Langsam hob ich meine Hand und ließ sie auf seine sinken.
„Du musst nichts bereuen. Ich bin davon überzeugt, Steffi möchte nicht, dass du etwas bereust. Du hast getan, was du konntest. Mehr kann man von keinem Menschen verlangen. Der Umgang mit Leuten, wie mir und deiner verstorbenen Frau, kann Kraft kosten. Ich frage mich oftmals, woher meine Kinder diese Stärke nehmen. Aber so verschieden, die drei sind, jeder von ihnen schafft es, mit meinen Macken fertig zu werden.“
„Jetzt sagst du es selbst. Deine Kinder, die so viele Jahre jünger sind, als ich, schaffen es. Aber ich habe versagt.“
„Sie sind zu dritt. Sie haben einander und geben sich gegenseitig Trost und Kraft. Durch diesen Zusammenhalt hat Alex die Stärke gefunden, zu gehen, als es Zeit für ihn wurde. Er hat sich das Recht auf seinen Freiraum genommen und dadurch zu seiner Kraft zurückgefunden. Diese Chance hattest du nie. Denn du warst allein.“
Norbert nahm meine Finger vorsichtig in seine und drückte sie. Wir schwiegen. Tranken unseren Wein. Sahen uns an und lächelten. Es brauchte keine Worte. Wir trösteten uns allein mit unseren Blicken.
„Wie hat es bei ihr begonnen? Wann? Darf ich dich das fragen?“ Ich hoffte, er fand mich nicht zu neugierig. Zum ersten Mal hörte ich nicht auf die Gedanken, die mir durch den Kopf jagten und mir erklärten, dass ich übergeschnappt war. Allein zu denken, dass ein Mann, wie Norbert Seelig, sich mit mir abgab und mir seine Sorgen mitteilte, war völlig daneben.
Er hingegen schien sich nichts dabei zu denken. Das Grübchen in seiner Wange vertiefte sich wieder und er erzählte mir seine und Steffis Geschichte.
„Wir wollten Kinder. Aber es klappte nicht. Wir sind von Arzt zu Arzt gezogen. Vergeblich versuchte ich, meine Frau zu einer Adoption zu überreden. Sie wollte nicht. Ich verstand überhaupt nicht wieso, sie so dagegen war. Es wäre die einfachste Lösung gewesen. Aber Steffi wollte ihren Eltern beweisen, dass sie wenigstens dies zustande brachte. Meine Schwiegereltern waren schwierige Menschen, um es freundlich auszudrücken. Sie haben ihr ganzes Leben lang kein liebes Wort für Steffi gefunden. Gleichgültig, was sie tat, nichts war gut genug. Mir war es egal. Ich liebte sie. Ob wir Kinder bekamen oder nicht, spielte für mich keine Rolle. Im Gegensatz zu Steffi und ihren Eltern.“
Norbert schenkte uns erneut ein und blickte in eine weit entfernte Vergangenheit.
„Wir kamen in das Alter, wo es immer schwieriger wurde, Kinder zu bekommen. Meine Schwiegereltern starben kurz hinter einander. Beide ließen Steffi wissen, wie sehr sie von ihr enttäuscht waren, dass sie keine Nachkommen produziert hatte. Ich formuliere es so zynisch, denn so unerbittlich und gemein waren sie zu ihrer Tochter bis zum Schluss. Schon die Jahre zuvor, war Steffi in ein tiefes Loch gefallen. Es war wie verhext. Wir waren gesund. Beide. Es gab aus ärztlicher Sicht keinen Grund, warum wir keine Kinder bekommen konnten. Aber selbst eine künstliche Befruchtung war mehrfach zum Scheitern verurteilt gewesen. Von einem gewissen Punkt ab, spielte ich nicht mehr mit. Finanziell und emotional waren wir beide am Ende. Ja, ich glaube, zu diesem Zeitpunkt brach Steffis Krankheit aus.“
Tränen standen in meinen Augen. Unerbittlich, zynisch und gemein, so waren meine Eltern gewesen, als ich ihre Hilfe gebraucht hätte. Sie hatten mich zurück in die Hölle einer Ehe mit Richard gestoßen. Es war ihnen völlig gleichgültig, dass es mich zerstörte und meine Kinder in große Gefahr brachte. Hauptsache, sie wahrten ihr Gesicht. Ich verlor mein ungeborenes Baby und musste mitansehen, wie mein Ehemann meine Jungs fast zu Tode prügelte.
„Wann hast du bemerkt, dass du Depressionen hast?“, drang Norberts Stimme in meine Gedanken. Seine Augen ruhten auf mir. Rehbraun und voller Anteilnahme. Ein Blick in seine Augen genügte und ich berichtete ich ihm alles, was ich bisher nur meiner Therapeutin gesagt hatte.
Ich gestand ihm, dass das Jugendamt mehrmals meine Kids vor mir und meinem Ex in Sicherheit gebracht hatte. Ich erzählte von Alex Raubzug durch den Supermarkt, um seinen kleinen Bruder und das Baby Julie zu ernähren, während Richard auf Sauftour und ich unfähig war das Bett zu verlassen und die Verantwortung zu übernehmen.
Tränen liefen über meine Wangen. Weinend berichtete ich ihm von Jos Selbstmordversuch und meinem Versagen als Mutter..
Norbert stand auf und setzte sich neben mich. Er nahm mich ihn den Arm und hielt mich fest.
„Da sind die beiden Richtigen zusammen gekommen,“ sagte er leise zu mir. Dann hielt er mir die Hand hin und zog mich von der Bank. „Komm, Annett. Ich bringe dich nach Hause. Nimm dir zwei Tage frei und erhole dich.“
Er brachte mich bis zu meiner Wohnungstür. Dort zog er mich ein letztes Mal in seine Arme und flüsterte mir zum Abschied zu:
„Pass auf dich auf, Annett.“
Ich stand lange, nachdem er abgefahren war, wie angewachsen vor meiner Haustür und fragte mich, ob ich diesen Abend geträumt hatte.

Norbert brachte mich von diesem Tag an stets nach der Arbeit nach Hause. Manchmal saßen wir stundenlang im Wagen und sprachen über Gott und die Welt. Keiner von uns hatte das Bedürfnis als Erster diese Gespräche zu beenden oder einen Schritt weiter zu gehen. Ich wurde bald fünfzig, hatte drei erwachsene Kinder, eine gescheiterte Ehe hinter mir und fühlte mich wie ein verliebter Teenager. Norberts Grübchen und sein Lächeln hatte ich ständig vor Augen. Wie mochte es sich anfühlen, ihn dort zu küssen? Überhaupt schlugen meine Gedanken Purzelbäume. Aber anderer Art, als ich es von mir gewohnt war. Völlig unanständige Fantasien, was diesen Mann betraf, jagten mir durch den Kopf. Was war nur mit mir los, fragte ich mich. Verliebtsein, das war etwas für junge Leute. Ich machte mich lächerlich mit meinen Gefühlen für einen Mann wie Norbert. Er konnte an jeder Hand fünf Frauen bekommen, die alle schöner, klüger und standesgemäßer waren, wie ich. Damen, die sich nicht an grauen Tagen in ihrem Schlafzimmer verkrochen, weil sie Angst vor ihrem eigenen Schatten hatten.
Trotzdem nahm ich Norberts Einladung zu einem gemeinsamen Essen an. Ich freute mich sogar darauf. Ich holte jedes einzelne Kleidungsstück aus meinem Schrank, zog es an, musterte mich damit im Spiegel und entschied, dass es nicht passend war. Letztendlich bat ich Alina, die Freundin von Jo um Hilfe. Ich nahm ihr das Versprechen ab, meinem Sohn kein Wort darüber zu verraten. Wir suchten einen Second Hand Shop auf, der hochwertige Kleider verkaufte, die ich mir so eben leisten konnte. Ich fand einen langen, weitschwingenden Rock und eine passende Bluse. Alina bot mir an, mir ihre Stiefel zu leihen, da wir die gleiche Schuhgröße hatte. Sie spendierte mir einen Friseurbesuch und ich nahm das Geschenk von ihr ohne Gewissensbisse an. Nur ein einziges Mal wollte ich mich wieder jung, schön und begehrenswert fühlen.
Stolz drehte ich mich vor dem Spiegel in meinem Schlafzimmer.
Meine Söhne, fielen aus allen Wolken, als ich derart ausstaffiert das Wohnzimmer betrat.
„Wo willst du denn hin?“, fragte mich Alex perplex.
„Ich treffe mich mit Freunden,“ erklärte ich, während ich versuchte, unaufgeregt zu wirken.
„Seit wann hast du Freunde, Mutsch?“, war die wenig höfliche, wenn auch zutreffende Antwort von ihm.
„Seit neuestem. Sei nicht so frech, zu deiner Mutter,“ maßregelte ich ihn. Ich holte meinen Mantel und ging zur Tür.
„Lass dich bloß nicht von fremden Männern anquatschen, Mutsch. So schick, wie du heute aussiehst,“ rief mir Alex hinterher.
Ich stoppte und drehte mich zu meinen Söhnen um.
„Ich sehe schick aus?“
Jo nickte ernsthaft.
„Alex hat recht. Du bist eine Augenweide heute Abend.“
Ein Lachen kam in mir hoch. Wenn einem die erwachsenen Söhne derartige Komplimente machten, dann konnte man sich schon etwas darauf einbilden.
„Wartet nicht auf mich. Es wird spät werden.“
Alex lief mir nach. „Warte! Du weißt, was du tust?“
Ich streichelte ihm über die Wangen und nickte ernsthaft.
„Mach dir keine Sorgen, mein Großer. Ich weiß genau, was ich tue. Ich will endlich selbst leben und nicht nur anderen dabei zusehen.“
Er nahm mich in die Arme und gab mir einen Kuss auf die Wange.
„Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Vergiss das bitte nie. Egal, was passiert. Wir helfen dir.“
Ich fühlte, wie Tränen in mir hochstiegen. Doch das durfte nicht sein. Ich wollte nicht mit schwarzen Rändern unter den Augen bei Norbert auftauchen. Deshalb riss ich mich zusammen. Gab meinem überfürsorglichen Sohn einen Klaps auf den Arm und versprach ihm fest, ich würde daran denken.

Es wurde ein bezaubernd, romantischer Abend. Wir gingen essen, anschließend ins Theater. Norbert fuhr mich nach Hause. Wir saßen ewig vor unserer Haustür und redeten. Keiner von uns wollte der Erste sein, der diesen Abend beendete. Letztlich sagte ich: „Ich würde dich gern zu einer Tasse Kaffee bei mir einladen, aber oben warten Jo und Julie auf mich. Es wäre....“
„Peinlich? Wenn sie uns zusammen sehen würden?“
„Ja. Nein, so meinte ich das nicht,“ stammelte ich verlegen.
Norbert hob seine Hand und fuhr mir sanft über die Haare.
„Wie meintest du es denn?“
Mir wurde klar, wie blöde ich mich verhielt. Ich hatte mich in meinen Chef verliebt. Na und? Es gab tausende Bücher, Liebesschmonzetten, wo sich die Angestellte und ihr Boss ineinander verknallten Warum durfte ich nicht einmal mein eigenes Märchen, meinen persönlichen Liebesroman leben. Ich musste nur mutig sein. Sagen, was ich mir wünschte. Wenn ich mich lächerlich machte, dann sollte es so sein. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Norberts Gefühle für mich sich von meinen unterschieden. Ich spürte tagtäglich, wie er sich um mich bemühte. Mut! Alles, was ich benötigte, war ein kleines quentschen Mut.
„Ich meinte, ich möchte es nicht bei einem Kaffee belassen, sondern gerne einen Schritt weitergehen. Aber mit meinen Kindern nebenan, käme ich mir seltsam vor. Ich hatte seit Jahren keine Beziehung mehr zu einem Mann. Ich bin für sie, die überforderte, depressive Mutter. Du hättest mal die Blicke meiner Söhne sehen sollen, als ich mich heute Abend für dich zurechtgemacht habe. Ich kann dich unmöglich an Jos und Julies Augen vorbei in mein Schlafzimmer führen.“
So, jetzt hatte ich es gesagt. Oh mein Gott! Mein Herz überschlug sich in meiner Brust. Ich spürte wie eine Panikattacke in mir aufstieg. Hatte ich das tatsächlich gesagt? Luft, ich brauchte Luft zu atmen.
Arme schlangen sich um meine Taille.
„Atmen Annett, atme. Ein und aus ! Ein und aus!“
Ich gehorchte. Langsam kämpfte ich die Angst nieder. Mein Herzschlag beruhigte sich wieder. Beschämt sah ich zu Norbert. Alles aus! Ich zerstörte, was uns miteinander verband. Es sei denn, ich hatte mir diese Verbundenheit lediglich eingebildet. In diesem Moment war ich mir sicher, er würde mir kündigen.
„Alles wieder gut?“, fragte er. Ich nickte und er entließ mich aus seinen Armen.
„Dann können wir jetzt fahren?“
„Wohin?“ Ich sah unsicher zu meinem Hauseingang hinüber. Wollte er mich auf direktem Weg in die Klapse bringen?
„Na, zu mir nach Hause. Ich habe keine Kinder, die wir mit unserer späten Liebe verstören könnten. Obwohl ich deine drei gerne kennenlernen würde. Aber das sollten wir uns für einen anderen Tag aufheben. Ich denke, wir lassen es langsam angehen. Wir fahren zu mir, trinken eine schöne Tasse Kaffee und warten ab, was sich sonst so mit uns ergibt. Kein Grund, in Panik zu geraten, Annett.“
Er schnallte mich wieder an, gab mir einen Kuss auf die Wange und fuhr los.

Verwirrt wachte ich auf. Ich blickte um mich und frage mich vergeblich, wo ich mich befand. Von außerhalb des fremden Schlafzimmers hörte ich Geräusche. Jemand summte leise vor sich hin. In diesem Moment fiel mir alles wieder ein. Ich erinnerte mich, dass ich Norbert sagte, ich wäre bereit, einen Schritt weiter zu gehen. Nicht nur Kaffee zu trinken. Genau das hatten wir dann getan. Wir waren Riesenschritte vorangegangen. Bei dem Gedanken wurde ich knallrot. Gleichzeitig stiegen Glücksgefühle in mir hoch. Gott, wie hatten uns benommen wie zwei liebeskranke Teenager. Jeder von uns war zuerst gehemmt gewesen. Nie im Leben hätte man vermuten können, dass ich dreifache Mutter und Norbert ein gestandener Mann von über fünfzig war. Doch dann war der Gordische Knoten geplatzt und wir hatten festgestellt, wie perfekt wir miteinander harmonierten. Ich erinnerte mich an das kleinste Detail der vergangenen Nacht. Wir erkundeten jeden Teil unseres Körpers. Berührten uns überall. Norbert war zuerst liebevoll und vorsichtig mit mir umgegangen. Er fragte mich mehrmals, ob ich weitergehen wollte und bat mich, ihm sofort mitzuteilen, wenn mir etwas nicht gefiel. Doch dafür bestand kein Anlass. Ich liebte es, was wir miteinander taten. Seine Hände auf meinen Körper, in meinen Haaren. Seine Küsse. Ich seufzte theatralisch. Niemals war ich so geküsst worden.
Norbert rief nach mir: „Frühstücken mein Herz.“
Suchend sah ich mich im Zimmer um. Ein Bademantel lag fürsorglich bereitgelegt am Bettende. Ich stand auf und schlüpfte hinein. Mein Liebhaber kam mir mit einem Tablett entgegen. Auf diesem befanden sich heißer Kaffee, frische Brötchen, Marmelade, Käse, Milch, Zucker, Butter.
„Ich dachte, wir frühstücken im Bett,“ sagte er enttäuscht, als er mich in seinem Bademantel erblickte.
Frühstück im Bett. Warum nicht? Ich hatte bisher nie im Bett gefrühstückt. Deshalb gab ich ihm einen Kuss auf die Wange und sagte, dass ich nur kurz ins Bad gehen wollte, um mich frisch zu machen.
„Okay, Annett. Du weißt ja, wo das Bad ist. Ich habe dir eine neue Zahnbürste herausgelegt. Bis du fertig bist, habe ich uns ein paar Eier gekocht.“
Mit der Aussicht auf ein opulentes Frühstück ging ich ins Bad und duschte ausgiebig.
Lachend kroch ich wenig später zu Norbert unter die Decke. Er stellte das Tablett in die Mitte des Bettes zwischen uns. Im ungünstigsten Moment meldete sich mein Handy. Ich hatte keine Lust dranzugehen, denn das hieße, sich der Welt da draußen wieder zu stellen. Deshalb versuchte ich, das Klingeln zu ignorieren.
„Du solltest schauen, wer das ist Annett. Das Ding bimmelt schon die ganze Zeit, die du im Bad warst,“ sagte Norbert.
„Oh, Mist!“, stöhnte ich, nachdem ich einen Blick auf das Display geworfen hatte. „Das sind die Kinder. Ich hätte mich bei Ihnen melden sollen. Das habe ich völlig vergessen.“
Wieder einmal stieg Panik in mir hoch. Hektisch warf ich fast das Tablett um, weil ich nicht schnell genug den Anruf entgegennehmen konnte. Norbert fiel mir in den Arm.
„Annett, hör mir zu. Atme. Hol zwei oder dreimal tief Luft und wenn du ruhig und gelassen bist, rufst du zurück. Die paar Minuten werden deine Kids abwarten können, bis du dich wieder im Griff hast.“
Ich war ihm dankbar, dass er mich erdete. Das war nötig, denn mir wurden Dutzende Nachrichten von allen drei Kindern angezeigt. Ich ließ mir die letzte Sprachnachricht anzeigen, die erst vor fünf Minuten eingegangen war. Alex Stimme tönte aufgeregt und wütend aus dem Speaker.
„Mutter, wenn du dich in der nächsten viertel Stunde nicht meldest, dann werde ich dafür sorgen, dass dich ein Großaufgebot der Polizei sucht. Wir haben die ganze Nacht auf die gewartet. Jo und Julie sind am Ende mit ihren Nerven. Wenn du mich hörst, dann ruf mich verdammt noch einmal an.“
Ich biss mir auf die Lippen. Wieder hatte ich alles falsch gemacht. Tränen traten in meine Augen. Es war so eine traumhafte Nacht gewesen. Ich hatte nicht daran gedacht, dass sich meine Kinder um mich Sorgen machten. Andererseits, wie oft waren meine Jungs nicht nach Hause gekommen, weil sie bei einem Mädchen übernachtet hatten? Keinem von beiden war es eingefallen, sich bei mir abzumelden oder sich gar zu entschuldigen, dass sie mich in Angst und Sorge versetzt hatten. Jetzt sahen sie, wie es war, wenn man stundenlang auf jemanden wartete und nicht wusste, ob etwas passiert war. Seufzend drückte ich auf Alex Kontakt. Schon beim ersten Klingeln hob mein Sohn ab.
„Um Himmels willen Mutter, wo zum Teufel bist du? Ist alles in Ordnung? Warum hast du dich nicht gemeldet? Wir sind hier fast durchgedreht vor Sorge.“
„Jetzt komm mal runter, mein Junge. Ich bin eine erwachsene Frau. Ich muss mich bei meinen Kindern nicht abmelden, wenn ich die Nacht nicht heimkomme. Allerdings gestehe ich euch zu, dass dies zum ersten Mal passiert ist und ihr deshalb zu Recht etwas überreagiert.“
Alex schnappte nach Luft. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Ich glaube, ich höre nicht recht. Wo bist du? Ich komme sofort und hole dich ab. Dann können wir uns vor mir aus gerne darüber unterhalten, wieso und warum du uns zu informieren hast, wenn du die Nacht nicht nach Hause kommst.“
Es war lächerlich. Mein Sohn behandelte mich, als wäre ich seine Teenager-Tochter, die unerlaubt die Nacht über weggeblieben war.
„Alex. Lass es. Ich komme allein nach Hause, und zwar wann es mir gefällt. Nicht, wenn du es verlangst. Ich werde hier in Ruhe zu Ende frühstücken. Macht euch darauf gefasst, dass ich Besuch mitbringe. Und keine Sorge, mir geht es bestens.“
Damit drückte ich ihn weg und wandte mich wieder Norbert zu.
„Ich weiß, wir sollten es langsam angehen lassen. Aber ich denke, ich werde in den nächsten Tagen keine Ruhe mehr haben. Meine Kids sind ein solches Verhalten von mir nicht gewöhnt. Es wird leichter, wenn ich ihnen beweisen kann, dass ich keineswegs durchgedreht oder unter die Straßenräuber gefallen bin, sondern sicher und behütet bei meinem Freund war. Ich bin davon überzeugt, sie werden dich mögen. Andererseits möchte ich nichts überstürzen. Wenn du nicht dazu bereit bist, meine Kinder kennenzulernen, dann werde ich ihnen ohne dein Beisein klar machen, dass ich ein Recht auf eine Liebesbeziehung habe. Selbst wenn das etwas völlig Neues für sie ist.“
Norbert lachte und zog mich in seine Arme. Dann küsste er mich so lange, bis wir beide atemlos nebeneinanderlagen.
„Es würde mich freuen, wenn ich deine Kinder kennenlernen kann. Ich werde dir gerne helfen, sie davon zu überzeugen, dass ihre Mutter keinem Raubritter zum Opfer gefallen ist.“
Wir frühstückten fertig, räumten gemeinsam die Küche auf. Dann wollte ich die Betten frisch beziehen, doch bevor ich dazu kam, liebten wir uns ein weiteres Mal. Es war längst über die Mittagszeit hinaus, als wir uns auf dem Weg zu den drei Inquisitoren machten.

Das Treffen zwischen Norbert und meinen Kindern verlief überraschend unaufgeregt. Ich vermutete, das lag zu einem großen Teil an Alina und Jana. Die Freundinnen meiner Söhne hatten den beiden Herren gehörig die Leviten gelesen. Dies wurde mir von einer, bis über die Ohren feixenden Julie berichtet. Dank dieses unverhofften Beistandes hielten sich die beiden mit weiteren Vorwürfen zurück und begrüßten meinen neuen Freund mit der Höflichkeit, die er erwarten konnte. Zuerst waren die Gespräche etwas verhalten, doch im Laufe des Nachmittags wurden meine Kinder und Norbert warm miteinander. Selbst die Tatsache, dass ich seine Angestellte war, wurde nicht über Gebühr strapaziert. Mein Chef erklärte meinen Jungs, dass er auf keinen Fall Unstimmigkeiten in seinem Team haben möchte und er deshalb bei der nächsten Dienstbesprechung meine Kolleginnen über seine Beziehung mit mir informieren werde. Wenn ich ehrlich war, ging das mir zu fix. Ich wollte mir überhaupt nicht vorstellen, was Lore, Jacqui und Bettina sagen würden, wenn herauskam, dass ich mit dem Chef ins Bett ging. Ich hatte Angst, dass unser freundschaftliches Verhältnis darunter leiden würde. Aber da musste ich durch. Diese Geschichte hatte ich mir selbst eingebrockt.
Als Norbert ging, nahm mich Jo in die Arme.
„Du siehst so glücklich aus, Mutsch. Ich hoffe und bete, dass du es bleibst. Du strahlst von innen heraus. Es ist das erste Mal, dass ich dich so sehe.“
„Danke mein Schatz. Du hast vollkommen recht. Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben sorgenfrei und bis über beide Ohren verliebt. Das ist ein Wahnsinnsgefühl.“
„Das sei dir gegönnt. Niemand hat es mehr verdient als du, Mutsch.“ Er sah mir tief in die Augen und sagte leise:
„Sollte er nicht gut zu dir sein, sag es mir. Dann werde ich ihn mir vorknöpfen.“
Ich wollte abwehren, doch Jo schüttelte den Kopf.
„Nein, Mama. Ich mein das ernst. Komm zu mir, wenn es nicht klappt. Ich werde für dich da sein. Immer.“
Mir traten die Tränen in die Augen, während Jo weiter sprach:
„Du weißt doch, ich kann mich am besten von uns allen in dich einfühlen. Alex und Julie sind unsere Himmelsstürmer, während du und ich auf der Erde sitzen und hin und wieder einen Blick in den Himmel werfen und uns wünschen sie begleiten zu können.“
Jos Vergleich war so treffend, dass ich ihn nur in den Arm nehmen konnte.
„Eines Tages, mein Liebling, wirst du den Himmel stürmen. Daran glaube ich fest,“ sagte ich zu ihm.

Als Norbert unser Team in der Weinstube zusammenrief und ihnen erzählte, dass er und ich ein Paar waren, reagierten diese wenn möglich cooler als meine Kinder.
Lore brummelte: „Ein wurde auch Zeit. Der Norbert lief mit einem Gesicht durch die Gegend, als wäre er magenkrank.“
Bettina warf die Arme um mich und ihren Chef und beglückwünschte uns von Herzen.
„Da haben sich die Richtigen gefunden. Und nur der Vollständigkeit halber. Auch Annett hatte diesen „Sprich-mich-nur-nicht-an-ich-wandle-auf-Wolken-Blick“ aufgesetzt. Es war nicht mehr auszuhalten mit euch beiden Turteltauben.“
Jacquie gratulierte uns, ohne jede anzügliche Bemerkung. Es kam mir vor, als hätten meine Kolleginnen darauf gewartet, dass Norbert und ich zusammenkamen. Ich freute mich über ihren rückhaltlosen Zuspruch. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich Freundschaft und eine Liebe, die ohne Vorbehalte gegeben wurde. Dies war der Moment, in dem mir klar wurde, ich hatte Menschen um mich, auf die ich mich jederzeit verlassen konnte. Sollten in Zukunft Tage kommen, wo mich meine Depression zu Boden presste, dann würden meine Freunde und meine Familie mir beistehen. Egal, was das Leben für mich bereithielt. Ich war nicht mehr allein. Ich hatte verstanden, dass ich um Hilfe bitten konnte, ohne verletzt zu werden, ohne verachtet zu werden. Nach all den Jahren hatte ich endlich einen sicheren Hafen gefunden. Ich liebte Norbert und er bewies jeden Tag, dass er mich ebenfalls liebte. Das war alles, was ich mir je gewünscht hatte.

Vier Jahre später

„Ja, ich will,“ sagte ich aus vollem Herzen und schaute meinen Bräutigam liebevoll an. Sein Grübchen vertiefte sich, als er mir lächelnd die Hand reichte, damit ich den Ring über seinen Finger streifen konnte.
„Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau. Sie dürfen Ihre Braut jetzt küssen,“ holte mich die Standesbeamtin in die Wirklichkeit zurück. Norbert ließ sich das nicht zweimal sagen. Er zog mich in seine Arme und küsste mich voller Inbrunst. Nicht nur auf den Mund, sondern mit Zunge, als wären wir allein zu Hause. Nach Atem schöpfend, sah ich die Beamtin verlegen an. Doch diese tat so, als hätte sie nichts gesehen. Nach der kurzen, nüchternen Zeremonie verabschiedeten wir uns.
„Was jetzt?“, fragte ich. Wir hatten jede Menge Zeit. Der Caterer wollte gegen halb sieben kommen, die ersten Gäste würden kurz danach eintreffen. Keiner dieser Gäste hatte eine Ahnung, dass sie zu einer Hochzeit eingeladen waren. Das würden sie früh genug erfahren.
Norbert zog mich in einen Bus und fuhr mit mir an den Rhein.
„Wir fahren mit dem Schiff nach Rüdesheim, gehen dort gemütlich Kaffee trinken und sind rechtzeitig wieder zurück, um dem Caterer zu öffnen,“ ließ mich mein Ehemann wissen. Ich strahlte. Eine Schifffahrt auf dem Rhein, wie romantisch. Wir suchten uns ein von der Sonne gewärmtes Plätzchen auf dem Oberdeck, während wir darauf warteten, dass das Schiff ablegte.
„Was die Kinder sagen werden, wenn wir ihnen heute Abend erzählen, dass sie einen Stiefvater bekommen haben?,“ fragte ich feixend.
Norbert grinste. „Die wird der Schlag treffen.“
Da konnte er durchaus recht haben. Wir hatten niemanden in unsere Pläne einbezogen. Weder meine Familie, noch meine Kolleginnen. Die würden Bauklötze staunen, wenn sie unsere Neuigkeiten erfuhren. Es war leicht gewesen, meine Kinder zu einem Essen in die „Seelige Weinstube“ einzuladen. Einem gemeinsamen Essen in Norberts Lokal konnten sie nicht widerstehen. Mit seinen Mitarbeiter war die Sache schwieriger. Sie sollten heute unsere Gäste sein. Wir wollten sie genauso überraschen, wie meine Kids. Aus diesem Grund benötigten wir eine Ausrede, dass die drei Damen nicht in ihrer Arbeitskleidung erschienen. Norbert hatte deshalb etwas von einem Jubiläum fabuliert, das er mit uns feiern wollte.
In Rüdesheim fand Norbert ein Café mit einem herrlichen Blick auf den Rhein. Während wir auf unsere Bestellung warteten, gingen wir noch einmal unsere Pläne für heute Abend durch, damit unsere Überraschungsparty zu einem Erfolg wurde.
„Du bist dir sicher, dass Alex es dieses Mal schafft, pünktlich zu sein?“, fragte mich Norbert, zum hundertsten Mal. Ich tätschelte beruhigend seine Hand.
„Keine Sorge. Er hat heute und morgen Urlaub. Besser hätte es nicht gehen können. Jetzt können ihn nur seine Damen davon abhalten, rechtzeitig zu erscheinen.“
Alex war mittlerweile die Karriereleiter hinaufgeklettert. Er war verheiratet und hatte zwei Töchter und einen Sohn. Alex und Jana hatten Robin, seinen Halbbruder, adoptiert. Der Junge liebte seinen großen Bruder oder besser seinen Vater abgöttisch. Joanna, Alex Älteste, war ein Wirbelwind, die nie still sitzen konnte. Valentina, hingegen ihr genaues Gegenteil. Gab man ihr ein Buch in die Hand, konnte sie stundenlang darin versinken. Ich gönnte meinem Sohn sein Glück. Er hatte sich dieses hart verdient. Nachdem er durch einen schweren Unfall wochenlang im Koma lag, musste er sich langsam in sein Leben zurückkämpfen. Niemand konnte damals sagen, ob er jemals wieder als Arzt würde arbeiten können. Doch mein Sohn ist ein Kämpfer, schon immer gewesen. Im Gegensatz zu mir. Während er um sein Leben rang, drehte ich durch. Jo und Julie brachten mich in die Psychiatrie. Wir wurden fast zeitgleich entlassen und mussten jeder für sich allein den Weg in die Normalität zurückfinden. Norbert stand in dieser schweren Zeit felsenfest an meiner Seite.
Glücklich hielt ich mein Gesicht in die Sonne und redete weiter über die geplante Party.
„Julie wird Lukas mitbringen. Ich glaube, sie hat mittlerweile eingesehen, dass er der Eine für sie ist.“
Norbert sah mich liebevoll an. „Na ja, bei allem, was passiert ist, kann man es ihr nicht verdenken, dass sie vorsichtig ist, bevor sie ihr Herz erneut verschenkt.“
Meine Tochter hatte sich in den falschen Mann verliebt. Einen Kerl, wie ihr Vater. Brutal, rücksichtslos und instabil, obwohl er äußerlich das grobe Gegenteil von Richard zu sein schien. Jeden Tag dankte ich allen Engeln und Heiligen dafür, dass dieser Psychopath aus unserem Leben wieder verschwunden war. Mit der Waffe in der Hand wollte er Julie zwingen, zu ihm zurückzukehren. An jenem Tag wuchs ich über mich hinaus. Es stand außer Frage, dass allein mein Einsatz meinen Kindern das Leben rettete. Julie hatte sich nach diesem Debakel zurückgezogen. Sie begann eine neue Ausbildung und vergrub sich monatelang in ihren Büchern. Es dauerte bis sie sich von ihrem ehemaligen Schulkameraden, Lukas Pfeiffer, dazu überrede ließ, mit ihm auszugehen. Im Laufe der Zeit wurde ihre Freundschaft enger und mittlerweile konnte sie niemanden mehr darüber hinwegtäuschen, dass sie in ihren früheren Schulfreund mehr als nur ein bisschen verliebt war.
„Und der Rest der Familie Brandes?“, wollte Norbert wissen. Ich trank einen Schluck von meinem Kaffee und dachte an Jo und seine Kinder.
Im Gegensatz zu seinem großen Bruder hatte Jo nicht sein Glück mit Alina gefunden. Nach der Geburt ihrer Zwillinge und dem Tod ihres Vaters, rieb Alina sich auf mit ihrer Arbeit für die Schreinerei. Sie hatte nie Zeit. Die Kinder waren die meiste Zeit bei Alex und Jana. Irgendwann kam es zum großen Bruch. Nach einem lautstarken Streit voller bitterböser, gegenseitiger Vorwürfen packte Jo seine Sachen und haute ab. In München fand er neue Freunde, eine Arbeitsstelle in einer Behinderten-Werkstatt und eine Wohnung in einer WG.
Dann starb Alina bei einem Autounfall. Sie hinterließ Jo nicht nur einen Anteil an der Schreinerei, ihre gemeinsamen Söhne, sondern auch ein Kuckuckskind. Das Baby Emmy, das zum Zeitpunkt des Unfalls erst ein paar Monate alt war. Das Geheimnis, wer der Vater ihres Kindes war, nahm Alina mit ins Grab.
Jo war hoffnungslos überfordert mit dem, was das Schicksal ihm zumutete. Aber zum Glück war Lisa, seine Freundin aus München, ihm in den letzten Jahren eine große Hilfe gewesen. Gemeinsam mit Jo sorgte sie für die drei Kinder. Diese waren begeistert von ihr und der neuen Patchwork-Familie. Emmy ist ein wichtiger Teil dieser Familie. Ihre großen Brüder lieben die Kleine abgöttisch, genauso wie Jo.
Meine Kinder und Enkelkinder sind der Mittelpunkt meines Lebens. Norbert hatte sich in diesen Kreis problemlos eingefügt. Lächelnd sah ich meinen Mann an:
„Wirst du jetzt doch langsam nervös? Wir können gerne zum Anleger laufen. Das Schiff wird in der nächsten halbe Stunde zurückkommen.“
Norbert nickte. „Ja, du hast recht. Ich will zurück. Es darf nichts schief gehen heute Abend.“
„Wird schon nicht. Und wenn, was soll es. Das bekommen wir hin. Es ist, wie du sagst, wir sind eine große Familie und helfen uns gegenseitig.“

Es ging nichts schief. Die Caterer waren rechtzeitig da. Sie brachten alles mit, Gläser, Geschirr, Tischdecken, Deko. Als unsere Gäste kamen, guckten sie reichlich dumm aus der Wäsche. Mit so einem Aufwand hatten sie nicht gerechnet.
„Was wird denn hier gefeiert?“ Skeptisch sah sich Bettina in dem Raum um.
„So ein Aufwand für ein kleines Jubiläum?“ Lore blickte misstrauisch auf die Köche des Caterers, die das Büffet hereinbrachten.
Der Chef der Catererfirma verteilte zwischenzeitlich den Sekt unter den Gästen. Die Kinder erhielten Apfelsaft. Norbert nahm mich an die Hand, sah meinen Söhnen und meiner Tochter strahlend in die Augen, bevor er zu sprechen begann:
„Lieber Alex, lieber Jo, liebe Julie. Ich muss mich entschuldigen, dass ich Euch hier vor vollendete Tatsachen stelle. Aber ich habe kürzlich Eure Mutter erneut um ihre Hand gebeten und dieses Mal hat sie meinen Antrag angenommen. Ich war so perplex, dass ich sie gleich nochmals gefragt habe. Als ihre Antwort noch immer „Ja“ war, habe ich mir gedacht, jetzt muss ich schnell handeln, bevor sie es sich wieder anders überlegt.“
Gelächter erklang. Norbert räusperte sich:
„Jungs, Julie, es tut mir leid. Was ich euch sagen muss ist: Wir waren heute Morgen auf dem Standesamt und haben geheiratet. Ihr müsst ab sofort mit mir als Stiefvater leben.“
Fassungsloses Staunen allseits. Niemand sagte ein Wort. Entsetzt sahen wir uns an. Nicht einmal Bettina, die nie die Klappe halten konnte, gab einen Pieps von sich.
„Du kriegst die Tür nicht zu,“ flüsterte Robin. „Herzlichen Glückwunsch Tante Annett, Onkel Norbert.“
Damit war der Bann gebrochen. Ein Dutzend Stimmen erhoben sich auf einmal. Meine Kinder umarmten mich. Meine Freundinnen, Lore und Bettina, suchten vergeblich mit mir anzustoßen. Die Kids waren außer Rand und Band. Lachten, schrien und tanzten durch den Raum. Es war ein heilloses Durcheinander.
„Ruhe!“, brüllte mein Ältester.
Er musste es mehrmals brüllen, bis er Gehör fand. Lachend kam er auf meinen Mann und mich zu.
„Diese Überraschung ist euch geglückt. Ihr seht uns hier fassungslos. Warum, zum Teufel, habt ihr kein Wort gesagt?“
„Wir wollten keine große Sache daraus machen. Ihr wärt doch alle durchgedreht. Meine Mädels hier wären zur Hochform aufgelaufen. Lore hätte am Herd gewerkelt, als gäbe es kein Morgen mehr. Das Gleiche gilt für Bettina und Jaquie. Aber sie sollten mit uns feiern, ohne sich um das Essen und das Bedienen der Gäste kümmern zu müssen. Und was Euch betrifft. Wir wollten Euch überraschen. Annett wollte keine wochenlangen Planungen, Hektik und Stress. Deshalb haben wir uns auf das Nötigste beschränkt. Die Zeremonie im Standesamt war ohnehin nichts Weltbewegendes. Im Übrigen ist es für uns beide die zweite Ehe. Da brauchten wir keine Zuschauer. Wir haben eine schöne Schifffahrt nach Rüdesheim gemacht und den Tag genossen. Der Caterer war seit Wochen bestellt und hat die erforderlichen Vorbereitungen getroffen. Wenn ich mich hier umsehe, können wir zufrieden sein. Aber Alex, wenn du Wert darauf legst, dann halte ich hiermit nochmal offiziell um die Hand deiner Mutter bei Dir an.“
Unsere Gäste lachten lauthals und Alex antwortete grinsend.
„Wenn du das tust, bin ich echt versucht „Nein“ zu sagen. Was würdet ihr zwei dann machen?“
„Was sollten wir schon machen? Ausreisen, wie in früheren Zeiten,“ kicherte ich .
„Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als dem Brautpaar zu gratulieren. Denn ich will mir nicht vorstellen, wie wir ohne dich auskommen sollen.“
Mit diesen Worten fiel mir Jo um den Hals, während Julie meinen Mann umarmte und Alex darauf wartete an die Reihe zu kommen.

Gegen Mitternacht gingen die letzten Gäste. Jo und Lisa waren schon lange zuvor nach Hause gegangen. Sie hatten Emmy tief schlafend, auf dem Boden, unter einem Tisch gefunden. Danach löste sich die Hochzeitsgesellschaft so nach und nach auf. Als wir die Tür der „Seeligen Weinstube“ hinter uns schlossen, sah mich mein Mann strahlend an:
„Das war ein wunderschöner Tag, mein Herz. Danke, dass ich Teil deiner Familie sein darf. Danke, dass du mir endlich das Ja-Wort gegeben hast.“
Ich küsste ihn auf die Wange und schmiegte mich an ihn.
„Danke, dass du Teil meines Lebens bist. Ich liebe dich, Norbert.“
„Schnell, lass uns nach Hause gehen,“ lächelte mein Mann, während sein Grübchen sich vertiefte. „Unser Hochzeitstag ist lange nicht zu Ende.“
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